Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven hat Russland den Rückzug von Truppen im Osten der Ukraine bekanntgegeben. Soldaten sollten aus dem Gebiet Charkiw etwa aus der strategisch wichtigen Stadt Isjum abgezogen werden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Samstag in Moskau. Auch aus der Stadt Balaklija, die die Ukrainer schon in der vergangenen Woche als befreit gemeldet hatten, sollen die russischen Truppen demnach abrücken.
Offiziell begründet wurde der Abzug damit, dass durch die Umgruppierung die Einheiten im angrenzenden Gebiet Donezk verstärkt werden sollen. Viele Militärexperten gehen jedoch davon aus, dass die Russen mehr als ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn angesichts des massiven ukrainischen Vorstoßes im Charkiwer Gebiet so stark unter Druck geraten sind, dass sie sich zur Flucht entschieden haben.
Im Rahmen ihrer Gegenoffensive hat die ukrainische Armee Präsident Wolodymyr Selenskyj zufolge in den vergangenen zehn Tagen rund 2000 Quadratkilometer in bislang von Russland besetzten Gebieten zurückerobert.
Ukraine: Strategisch wichtige Stadt Kupjansk zurückerobert
Früher am Samstag hatte die ukrainische Seite etwa über die Rückeroberung von Kupjansk berichtet. Die Kleinstadt ist wegen ihres direkten Bahnanschlusses an Russland als Verkehrsknotenpunkt wichtig für die Versorgung des gesamten russischen Truppenverbands um das südwestlich gelegene Isjum. Durch den Vorstoß der Ukrainer hätte dort nun mehr als 10000 russischen Soldaten die Einkesselung gedroht.
Später berichtete der Militärgouverneur des ebenfalls ostukrainischen Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, die eigenen Truppen seien auch dort auf dem Vormarsch und bereits an den Stadtrand von Lyssytschansk vorgestoßen. Lyssytschansk war im Juli als letzte größere Stadt des Gebietes Luhansk von der russischen Armee erobert worden. Vor dem Ende Februar von Russland begonnenen Einmarsch in die Ukraine hatte die Industriestadt knapp 100.000 Einwohner.
Das russische Militär gab heute den Rückzug einiger Truppen im Osten der #Ukraine bekannt. Derweil besucht Außenministerin Annalena Baerbock erneut das Land. pic.twitter.com/OcmsYnTqyg
— ZDFheute (@ZDFheute) September 10, 2022
Der Anführer der Separatisten in Donezk, Denis Puschilin, berichtete von heftigen Kämpfen in der Region. Die Lage in der Ende Mai von russischen Soldaten eingenommenen Stadt Lyman sei „ziemlich schwierig, ebenso wie in einer Reihe anderer Orte im Norden der ‚Volksrepublik‘“, sagte Puschilin in einem im Onlinedienst Telegram veröffentlichten Video. „Wir haben keine andere Wahl, als den Donbass zu halten, und wir werden Erfolg haben“, versicherte er. „Selbstverständlich werden wir siegen“.
In Onlinediensten veröffentlichte Aufnahmen zeigten am Samstag zudem offenbar ukrainische Soldaten in der Stadt Isjum, die ebenfalls zuvor in russischer Hand war. Nach ukrainischen Angaben rückten ukrainische Truppen am Samstag zudem auf die östliche Stadt Lyssytschansk vor, die russische Soldaten im Juli nach erbitterten Kämpfen eingenommen hatten.
„Mut“ der Ukrainer und westliche Waffen bringen „erstaunliche Resultate“
„Ukrainische Truppen rücken im Osten der Ukraine vor und befreien weitere Städte und Dörfer“, erklärte Außenamtssprecher Oleh Nikolenko am Samstag in Kiew. Der „Mut“ der ukrainischen Soldaten gepaart mit der militärischen Unterstützung durch den Westen bringe „erstaunliche Resultate“. Am Freitagabend hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits die Rückeroberung von 30 Städten und Dörfern in der Region Charkiw verkündet.
Der neue ukrainische Vorstoß könnte Russlands Möglichkeiten erheblich einschränken, seine Stellungen an der ukrainischen Ostfront mit Nachschub und logistischer Unterstützung zu versorgen. Russland könnte gezwungen sein, sich vollständig aus der Region Charkiw zurückzuziehen.
Einem Sprecher der ukrainischen Streitkräfte zufolge rückten ukrainische Truppen auch im Süden des Landes in Gebiete vor, die von russischen Soldaten gleich zu Beginn ihrer Invasion eingenommen worden waren.
Baerbock sichert weitere Unterstützung und Waffenlieferungen zu
In Kiew versprach Bundesaußenminister Baerbock unterdessen, Deutschland werde der Ukraine auch künftig „mit der Lieferung von Waffen, mit humanitärer und finanzieller Unterstützung“ helfen. Baerbock warnte vor der Strategie des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der darauf setze, „dass wir der Anteilnahme am Leid der Ukraine müde werden“ und „dass er uns die Energie nehmen kann, uns gegen diesen brutalen Angriff auf unser aller Werte zu verteidigen“.




