Straßenfest

Zwischen Affenpocken und Peniskerzen: Das Straßenfest in Schöneberg

Das Lesbisch-schwule Stadtfest wird 30 Jahre alt und musste zwei Jahre aussetzen. Ein Bericht.

Die queeren Nonnen des Ordens „Schwestern der perpetuellen Indulgenz“ beim 28. Lesbisch-schwulen Stadtfest rund um den Nollendorfplatz.
Die queeren Nonnen des Ordens „Schwestern der perpetuellen Indulgenz“ beim 28. Lesbisch-schwulen Stadtfest rund um den Nollendorfplatz.dpa

Jirka Witschak steht ganz am Rand der Fuggerstraße in Berlin-Schöneberg und erzählt über Fürstenwalde, jene kleine Stadt in der Seenlandschaft von Nordbrandenburg, die sich schon nach Mecklenburg anfühlt. Der 52 Jahre alte Mann ist die letzte Person, die Besucher des Straßenfestes treffen – oder die erste, je nachdem, welchen Eingang man nimmt. Witschak erzählt, er habe am Sonnabend auf dem Straßenfest mit einem Mann aus Fürstenberg gesprochen, der in seiner Heimat einen Beratungs-Ort für Lesben und Schwule vermisst. „Ich bin dann um die Ecke zum Stand der evangelischen Kirche gegangen“, sagt der Potsdamer, „und hab dort einmal gefragt, ob sie Räume haben.“ Sie hatten. Er hat die beiden dann mal „connected“.

Das Lesbisch-schwule Stadtfest findet in diesem Jahr zum 28. Mal statt, dabei hat es eigentlich 30-jähriges Jubiläum. Die zwei Corona-Jahre werden sich allein so für immer in die Geschichte auch dieses traditionsreichen Stadtteilfestes einbrennen. Rund 350.000 Menschen treffen sich am 3. Wochenende im Juli auf den sechs Straßen im Nollendorf-Kiez, essen exotische Speisen, trinken Aperol-Spritz und nehmen kostenlose Schlüsselanhänger, Aufkleber, Süßigkeiten, Flyer und Kondome mit nach Hause. An rund 100 Ständen werben Organisationen um mehr Sichtbarkeit oder klären schlicht auf.

In diesem Jahr sind ein besonderes Thema die Affenpocken. „Mancheck“ hat dafür direkt in der Mitte der Kalkreuthstraße einen Stand aufgebaut. „MPX“ steht dort groß auf den Flyern. „Nein, das ist keine neue Mountainbike-Sorte“, sagt Martina am Mancheck-Stand. „Das steht für Monkeypox, die meisten reagieren beim Wort Affenpocken.“ Sie sagt, dass viele aufgeklärt werden müssen. „Wir kriegen hier vor allem oft die Frage zu hören, wo wir uns denn impfen lassen können und warum es so lange gedauert hat.“ Die Wartezeiten seien dafür ihn Berlin leider noch zu lang. Aber Martina wolle auch über die Präventionsarbeit aufmerksam machen.

Das Straßenfest gilt als kleiner CSD, bei dem der Fokus weniger auf dem Feiern liegt, als auf dem Wiedersehen. Jirka Witschak vom Lesben- und Schwulenverband aus Brandenburg trifft hier einfach viele Kollegen aus anderen Verbänden und kann zum Beispiel mit ihnen die Erfahrung über das Projekt in Polen teilen. Sie haben polnische Städte angeschrieben, die eine Städtepartnerschaft mit Brandenburger Städten haben. „Es ist wichtig, dass man im Gespräch bleibt“, sagt er – und meint sowohl das Ausland als auch die Berliner Kollegen. Immer wieder hört man, wie sich am Wochenende die Menschen an den Ständen untereinander begrüßten mit: „Mensch, endlich sehen wir uns wieder.“

Laura Kasper und Paula Zinsmeister von L-Support
Laura Kasper und Paula Zinsmeister von L-SupportSören Kittel

Eine von ihnen ist Constanze Körner, Leiterin des Vereins Lesben leben Familie in Lichtenberg. Die 48-Jährige hat selbst fünf Kinder und ist vor einem Jahr Oma geworden. „Wir arbeiten vor allem daran, verschiedene Einrichtungen zu sensibilisieren für Themen rund um Regenbogenfamilien.“ Sie organisiert Krabbel-, Schwangerschafts- und Kinderwunschgruppen und berät Regenbogenfamilien, was sie ausfüllen müssen, wenn in einem Fragebogen nur die Stellen „Mutter“ und „Vater“ auszufüllen sind. Lichtenberg erlebt Körner als sehr divers und offener als sein Ruf. „Der Regenbogen hört nicht am S-Bahn-Ring auf“, sagt sie. „Aber das Bezirksamt ist sehr engagiert und da ist viel möglich.“

Nur die Bezirke Lichtenberg und Tempelhof-Schöneberg sind mit Ständen auf dem Straßenfest vertreten. Ansonsten ist die Mischung so breit wie das Regenbogen-Leben in Berlin. Sportvereine (Vorspiel), Schwimmgruppen (Regenbogenforellen), Chorgruppen (Männerminne) und Schuhplattler-Vereine (Querplattler). Es gibt Stände mit Woll-Unterhosen in Regenbogenfarben, Kerzen oder Keksen in Penisform, und kostenlose HIV-Tests zum Mitnehmen.

Seit 1996 wird einmal im Jahr eine Initiative mit dem Rainbow-Award ausgezeichnet. In diesem Jahr ist es der Berliner Verein L-Support, die sich seit sieben Jahren gegen antilesbische Gewalt einsetzt. Laura Kasper hat sich sehr darüber gefreut. Die 31-Jährige macht dort ehrenamtlich mit. Statistiker haben errechnet, dass es in Berlin zu 35.000 anti-lesbischen Straftaten pro Jahr kommt. Im vergangenen Jahr wurden 14 angezeigt. „Ich habe selbst schon erlebt, dass meine Freundin und ich in Spandau angespuckt wurden“, sagt sie. L-Support bietet die Möglichkeit, online oder per Telefon solche Ereignisse zu melden. „Oft gehen Betroffene eben nicht zur Polizei“, sagt Laura Kasper, „weil sie sich nicht immer korrekt behandelt fühlen.“

Ein paar Stände weiter am Nollendorfplatz stehen mehrere Polizisten unter einer Regenbogenflagge. Darauf angesprochen, reagieren sie nicht defensiv. „Wir sind ein Querschnitt der Gesellschaft“, sagt der Polizist Michael Späth. „Natürlich kann es sein, dass nicht jede Dienststelle ideal reagiert.“ Aber da habe sich sehr viel getan, sagt seine Kollegin Anne von Knoblauch. „Wir haben am Freitag vor dem Präsidium die Regenbogenfahne gehisst.“ Als sie das vor zehn Jahren gemacht haben, gab es Hunderte E-Mails von Kollegen, die sich dagegen gewehrt haben. Von Knoblauch hält ihren Daumen lächelnd hoch: „Dieses Jahr hatten wir eine einzige.“

Die Polizisten Michael Späth und Anne von Knoblauch. Später haben sie auch gesungen.
Die Polizisten Michael Späth und Anne von Knoblauch. Später haben sie auch gesungen.Sören Kittel

Die Polizisten kommen ins Erzählen, am Sonntagnachmittag auf der Motzstraße, sie berichten von Kriminalhauptkommissar Heinz Urth, der als einer der ersten 1999 einen Rainbow-Award bekommen hat; dass Berlin die erste Stadt war, die einen Ansprechpartner für homo- und transphobe Gewalt hatte; dass Hamburg 25 Jahre später nachzog; dass Nordrhein-Westfalen und Bayern immer noch keine solche Stelle haben – und dass sie jetzt gleich los müssen, weil gleich ihr Kollege Sebastian Stipp singt. Den wollen sie gern hören.

Und richtig, am Sonntagnachmittag steht ein Polizist auf der Bühne vor der Bar „Rastlos“. Die Streifen auf dem weißen Diensthemd weisen ihn als Oberkommissar aus. Bevor er im Sonnenschein das Lied „Shape of You“ von Ed Sheehan singen wird, erinnert Sebastian Stipp noch einmal an die 130 Gewalttaten gegen queere Menschen in Berlin, daran, dass die Dunkelziffer höher ist, und dass neulich ein junger Mann zusammengeschlagen wurde. Er hat 18 Schrauben im Gesicht, eine Titanplatte im Kopf. „Und das alles nur“, sagt Stipp, „weil der Mann eine Regenbogenflagge getragen hat.“