Verkehr

Warum ein GDL-Gewerkschafter aus Berlin weitere Bahnstreiks erwartet

An diesem Mittwoch endet der zweite Ausstand in diesem Tarifstreit. Der Konflikt sei noch nicht vorbei, sagt René Bäselt von der Berliner Streikleitung.

René Bäselt, Zugchef bei der Deutschen Bahn und derzeit in der Berliner Streikleitung.
René Bäselt, Zugchef bei der Deutschen Bahn und derzeit in der Berliner Streikleitung.Gerd Engelsmann

Berlin-An diesem Mittwoch um 2 Uhr ist es vorbei. Nach dem zweiten Streik im laufenden Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn (DB) rollt der Zug- und S-Bahn-Verkehr wieder an. Doch im Berliner Streiklokal der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ist man sich sicher, dass dies nicht der letzte Ausstand gewesen ist. „Im Moment scheint sich auf Seiten der Bahn nichts zu bewegen“, sagt René Bäselt, einer der Streikleiter in Berlin. „Deshalb gehe ich davon aus, dass es weitere Streiks geben wird. Wir müssen die Gegenseite zum Handeln zwingen.“ Während des vorangegangenen Tarifkonflikts, der 2015 zu Ende ging, wurde allein der DB-Personenverkehr 313 Stunden lang bestreikt. „Wir können das“, sagt Bäselt.

Im Dienst trägt der 51-jährige Friedrichshainer Anzug und Krawatte, als Zugchef ist er von Berlin aus im ICE und Intercity unterwegs. Doch an diesem Nachmittag begrüßt er seine Kollegen in Shorts und einem weißen T-Shirt mit der Aufschrift „Streikleitung“. Im Café Style, im Erdgeschoss eines Hochhauses unweit vom Ostbahnhof gelegen, kümmert er sich um andere Mitglieder seiner Gewerkschaft. Auf einem Grill brutzeln Würstchen, am Terrassenzaun hängen GDL-Fahnen. Heute wird Bäselt, der Vizevorsitzender der Ortsgruppe Fahrpersonal und Werke Berlin mit mehr als 400 Mitgliedern ist, sein Ehrenamt von 17 Uhr bis 6 Uhr am nächsten Morgen versehen.

Gewerkschaft steckte bei ihren Forderungen bereits zurück

Dass die Bahn versucht hat, den Streik mit dem Angebot einer Corona-Prämie zu verhindern, findet René Bäselt ärgerlich und amüsant zugleich. „Angebot? Das war kein Angebot, sondern nur die Ankündigung, mit uns darüber zu verhandeln“, entgegnet er. Zudem habe es bereits Verhandlungen gegeben – bei denen die GDL der Arbeitgeberseite weit entgegengekommen sei. Aktuell verlangt die Gewerkschaft 600 Euro, die Ursprungsforderung sei mehr als doppelt so hoch gewesen. Auch beim Thema Bezahlung habe die GDL zurückgesteckt: Statt 4,8 Prozent mehr Lohn werden jetzt noch 3,2 Prozent gefordert. „Worüber will die DB noch verhandeln?“, fragt der Gewerkschafter.

René Bäselt ist gern Eisenbahner, seit 34 Jahren schon. Als Zugchef ist er der ranghöchste Mann an Bord und kommt viel in Deutschland herum. „Ich möchte dem Unternehmen nicht schaden. Aber das Management muss begreifen, dass es so nicht weitergehen kann“, betont er. „Es gibt so viele Kleinigkeiten, die sich summieren und die Unzufriedenheit verstärken.“ Auch deshalb sei die Streikbereitschaft hoch – und sie werde es bleiben, wenn die Bahn weiterhin versuche, den Konflikt auszusitzen.

„Wir sind Blitzableiter für das Versagen des Managements“, sagt Bäselt. Wenn die Reisenden erleben, dass das Bundesunternehmen mit seiner Kernaufgabe immer schlechter zurechtkommt, dass die Verspätungen wieder zunehmen und Toiletten ausfallen, lassen sie ihren Ärger an den Zugteams aus.

Es komme vor, dass Reisende sich weigern, ihre Fahrkarten zu zeigen, weil das Zugrestaurant wieder mal geschlossen ist, erzählt der Zugchef. Was die Bahn intern als Komfortstörungen einstuft, vermasselt der zahlenden Kundschaft nachhaltig die Reise. Kürzlich sei er mal wieder in einem ICE unterwegs gewesen, in dem das Wasser wegen eines mikrobiologischen Befundes nicht mehr verwendet werden durfte, berichtet Bäselt. Das bedeutete: kein Kaffee für die Reisenden. Wie viele kaputte Bierzapfanlagen er erlebt hat, könne er nicht mehr zählen.

Corona-Leugner greifen Zugbegleiterin an – immer mehr Angriffe

„Früher waren die Fernzüge häufig mit jeweils einem Zugchef und drei Zugbegleitern besetzt“, erzählt René Bäselt. Heute geht er nicht selten nur mit einem weiteren Kollegen oder einer weiteren Kollegin auf Tour – selbst wenn es sich um einen langen ICE4 handelt, der mehr als 900 Fahrgäste fasst. Es gebe auch keine festen Teams mehr. An die Stelle eingespielter Mannschaften seien zusammengewürfelte Gruppen getreten, deren Mitglieder häufig sogar während der Fahrt wechseln.

Auf der anderen Seite stiegen die Anforderungen immer weiter. Weil Wagenmeister eingespart wurden, müssten Zugbegleiter inzwischen bei immer mehr Technikproblemen tätig werden. „Vor kurzem wurden bei einem Halt in Hamm bei Arbeiten am Gleis fünf Fensterscheiben beschädigt. Mit der Folge, dass wir die fünf Scheiben mit Folie bekleben mussten“, berichtet der Zugchef. Auch für defekte Klimaanlagen sei oft das Zugteam zuständig. „Es gibt immer mehr neue Aufgaben, ohne zusätzliche Bezahlung.“ Mittlerweile sollen die Zugbegleiter auch überprüfen, ob Fahrgäste, die nach Deutschland einreisen, Corona-Vorschriften eingehalten haben.

Apropos Corona: „Während des ersten Lockdowns, als es kaum Fahrgäste gab, stieg die Zahl der Angriffe auf das Zugpersonal.“ Kürzlich sei auch er wieder mal attackiert worden, von einem Reisenden, der weder ein Ticket noch Geld oder einen Ausweis dabei hatte, berichtet der Eisenbahner. „Eine Kollegin von DB Regio wurde von einer Gruppe Corona-Leugner angegriffen, die Mund und Nase nicht bedecken wollten“ – nur zwei Beispiele von vielen. René Bäselt kennt die Statistiken. Er ist in Arbeitskreisen aktiv, in denen es um die Sicherheit des Zugpersonals geht.

In anderen Ländern wird bei der Bahn härter gestreikt

Mit der Zahl der Urlaubstage, in seinem Fall sind es mittlerweile 44 pro Jahr, ist er zufrieden. Zu seiner Bezahlung äußert er sich nicht – dem Vernehmen nach tragen Zugchefs wie er pro Monat rund 2400 Euro netto nach Hause. Ein typischer Dienstplan: Am Tag 1 ist er von 9.15 bis 6.01 Uhr am nächsten Tag im Einsatz. Zwölf Stunden später wird weiter gearbeitet, von 18.11 bis 0.29 Uhr. Am Tag 3 geht Bäselt von 17.27 bis 22.45 Uhr auf Tour, gefolgt von einer Übernachtung in Münster. Am Tag 4 dauert der Dienst von 5 bis 10.04 Uhr. Dann sind zwei Tage frei. „Wir sind Schichtdienst gewohnt“, sagt René Bäselt. „Aber wir stellen auch fest, dass der Computer die Möglichkeiten inzwischen bis zur letzten Minute ausschöpft.“

Während des laufenden Tarifstreits verzeichnet die GDL auch in Berlin neue Mitglieder. Ein Teil komme von der GDL-Konkurrenz EVG, die zuletzt einen schlechten Tarifabschluss erzielt habe, sagt René Bäselt. „Die Bahn würde sich unglaubwürdig machen, wenn sie mit uns etwas Besseres vereinbaren würde.“ So hart wie anderswo werde in Deutschland nicht gestreikt. „In den Niederlanden gibt es keine Vorwarnzeit für die Fahrgäste. Da bekommt das Bahnpersonal per SMS den Aufruf, dann bleiben die Züge stehen.“ Doch klar sei: Die Reisenden müssen mit einem weiteren Ausstand rechnen.