Mobilität

„Ein skandalöser Vorgang“: Pläne für neue Fahrradstraße unter Beschuss

Verkehrswende á la Berlin. 2015 wurde beschlossen, die Handjerystraße in Friedenau umzugestalten. Endlich soll es losgehen – doch eine ganz große Koalition fordert plötzlich den Erhalt von Parkplätzen. 

Ganz schön eng. In der Handjerystraße, hier der Nordabschnitt, darf derzeit noch auf beiden Seiten geparkt werden. Der Bezirk möchte dies ab 2023 jeweils nur noch auf einer Seite erlauben.
Ganz schön eng. In der Handjerystraße, hier der Nordabschnitt, darf derzeit noch auf beiden Seiten geparkt werden. Der Bezirk möchte dies ab 2023 jeweils nur noch auf einer Seite erlauben.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Die geplante Fahrradstraße in Friedenau ist ein gutes Beispiel dafür, wie langsam die Dinge in Berlin vorangehen – oder oft gar nicht. Vor siebeneinhalb Jahren beschloss das Bezirksparlament Tempelhof-Schöneberg, die Handjerystraße umzugestalten, damit Radfahrer bequem und sicher vorankommen. Erst jetzt liegen endlich Pläne vor, die umsetzbar sind. Doch das Vorhaben ist wieder ins Stocken geraten. Anlass ist ein Antrag der SPD und FDP, der im Verkehrsausschuss des Bezirks eine breite Mehrheit fand – auch CDU und AfD stimmten dafür. Darin wird unter anderem der Erhalt von Parkplätzen verlangt. Aber dann würde die Fahrradstraße schmaler als erlaubt, so die Planer.

Rund 70 Bürger demonstrierten am Donnerstag vor dem Rathaus Schöneberg. „Ein skandalöser Vorgang“, rief Jens Steckel, Sprecher des Netzwerks fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg. „Seit 2014 wird über die Handjerystraße diskutiert, seit 2015 gibt es den Beschluss, sie zur Fahrradstraße zu gestalten. Und jetzt erleben wir, dass sich Politiker erneut bemüßigt fühlen, das Projekt auf die lange Bank zu schieben.“ Die erste Fahrradstraße im Bezirk müsse endlich eingerichtet werden, so die Forderung.

Auf den ersten Blick ein Idyll – doch hinter den Kulissen brodelt es

Der Konflikt zeigt: Verkehrswende, umweltfreundliche Mobilität, Klimaschutz – darüber sind sich viele Menschen theoretisch einig. Aber wenn es darum geht, praktische Maßnahmen zu treffen, schlagen die Wellen hoch und es wird alles versucht, Projekte zu verhindern oder zu verwässern.  Das zeigt der Streit um die Handjerystraße im Südwesten Berlins wie unter einem Brennglas.

Ein Transparent an einem Vorgarten in der Handjerystraße. Bürger lehnen die Planung des Bezirks ab. Sie fordern eine Miteinander-Straße, in der alle gleichberechtigt sind. Derzeit ist das aber nicht der Fall – Autos dominieren.
Ein Transparent an einem Vorgarten in der Handjerystraße. Bürger lehnen die Planung des Bezirks ab. Sie fordern eine Miteinander-Straße, in der alle gleichberechtigt sind. Derzeit ist das aber nicht der Fall – Autos dominieren.Berliner Zeitung/Peter Neumann

Auf den ersten Blick ist die Straße ein Idyll. Auf rund anderthalb Kilometern führt sie durch ein schönes Stück Friedenau. Stuckverzierte Gründerzeithäuser, manche mit Vorgärten, und Villen aus der Frühzeit des Wohnviertels säumen die Allee. Der Supermarkt wirbt mit Biokäse „Wilder Bernd“ im Sonderangebot. Es gibt auch eine Schule, ein griechisches sowie ein österreichisches Restaurant, ein Spielzeuggeschäft, Heilpraxen. Auf dem runden Reneé-Sintenis-Platz, der die nach einem früheren Landrat benannte Straße teilt, spielen Großeltern mit ihren Enkeln.

Auf Transparenten wird eine „Miteinander-Straße“ gefordert

Doch hinter den Fassaden brodelt es. Das zeigen Transparente, die an einigen Häusern hängen. Als Gegenmodell zum Plan des Bezirks, die Handjerystraße zu einer Fahrradstraße zu gestalten, wird eine „Miteinander-Straße“ gefordert. Piktogramme zeigen weiß auf blau ein Auto, einen Fußgänger mit Rollator, eine Mutter mit Kind und ein Fahrrad – alle gleichwertig nebeneinander. Doch zumindest derzeit kann in der Handjerystraße von einer solchen Gleichberechtigung nicht gesprochen werden.

Autos dominieren das Bild. Im großbürgerlichen Friedenau, wo es viele Fahrzeuge gibt, ist der Parkdruck groß. Zu beiden Seiten der schmalen Fahrbahn stehen Autos, dazwischen bleiben nicht viel mehr als drei Meter für den fließenden Verkehr. Wenn sich Autos oder Autos und Fahrräder begegnen, wird es eng. Dabei ergaben Zählungen, dass in der Handjerystraße mehr Fahrräder als Kraftfahrzeuge unterwegs sind. Als Verlängerung der Fahrradstraße Prinzregentenstraße wird sie von vielen Radfahrern genutzt – zum Teil drei Mal so viele, rechnet Bezirksstadträtin Saskia Ellenbeck vor.

Anwohner kritisieren „Fehlplanung“ des Bezirks

Damit auch die Handjerystraße zu einer Fahrradstraße gestaltet werden kann, müsse mehr Platz für Radfahrer geschaffen werden, muss die Fahrbahn breiter werden, so die Grünen-Politikerin. Dies erfordere, das ein Teil der Stellplätze wegfällt, bekräftigte sie im Verkehrsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). „Ein Drittel“, so Ellenbeck – rund 130 von 390. Die Bürgergruppe, die eine Miteinander-Straße will, hat 356 Stellplätze gezählt. Davon müssten 175 aufgehoben werden, so Anwohner Wolfgang Zeyns im Ausschuss.

Vor dem Rathaus Schöneberg demonstrieren Bürger dafür, die Planung umzusetzen – acht Jahre nach Beginn der Diskussion. Das Netzwerk fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg hat zur der Kundgebung aufgerufen.
Vor dem Rathaus Schöneberg demonstrieren Bürger dafür, die Planung umzusetzen – acht Jahre nach Beginn der Diskussion. Das Netzwerk fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg hat zur der Kundgebung aufgerufen.Berliner Zeitung/Peter Neumann

Man sei nicht gegen Radfahrer, sagte Zeyns. Doch Fahrräder seien nicht wichtiger als Fußgänger. Die Bürger seien nicht einbezogen worden, stattdessen seien vor allem Radlobbyisten befragt worden. Was der Bezirk als Beteiligung bezeichne, sei eine „Farce“, kritisierte der Anlieger. Angeblich wurden Flyer verteilt, aber diese kamen nicht in den Briefkästen an. „Eine gut funktionierende Erschließungsstraße wird völlig derangiert“, fasste Wolfgang Zeyns zusammen. „Eine Fehlplanung.“

„Die geplante Fahrradstraße entspricht dem demokratischen Willen“, entgegnete Stefan Meißner vom Netzwerk fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg, der im Rathaus Schöneberg als Nächster sprach. Das Mobilitätsgesetz und der Radverkehrsplan des Senats, der den Südabschnitt der Handjerystraße als Teil des Vorrangnetzes und den Nordabschnitt als Teil des Ergänzungsnetzes vorsehe, seien korrekt zustande gekommen, und sie gelten. Die jetzige Platzaufteilung auf der Handjerystraße erhöhe die Unfallgefahr. Für Radfahrer sei die Fahrbahn zu schmal, bekräftigte Meißner.

Planer: Fahrgasse ist mit 3,25 Meter viel zu schmal

„Das Regelwerk des Landes Berlin sieht für Fahrradstraßen eine Mindestbreite von vier Metern vor“, sagte Peter Bischoff vom Planungsbüro SHP Ingenieure im Ausschuss. Hinzu kommen Sicherheitstrennstreifen als Abstand zu parkenden Autos. Bei Fahrzeugen, die in Längsrichtung am Straßenrand stehen, seien 75 Zentimeter einzuplanen.  Bei Querparkern sei sogar ein Meter zu berücksichtigen. Bei Beibehaltung aller Parkplätze bleibt etwa auf dem Südabschnitt nur eine „Fahrgasse“ von 3,25 Meter – viel zu schmal, sagte Saskia Ellenbeck. Deshalb sollen dort die Längsparkplätze entfallen. Auf dem Nordabschnitt sollen Autos statt auf beiden Seiten nur noch auf jeweils einer Seite im Wechsel abgestellt werden dürfen – so der Plan.

Nachdem acht Jahre debattiert wurde, ist das Projekt nun umsetzungsreif. „Für den Nordteil stehen wir kurz vor der Ausschreibung“, so Ellenbeck. Dort und auf dem Südteil soll die Umgestaltung zu einer Fahrradstraße mit Vorfahrtberechtigung und „Anlieger frei“ 2023 begonnen und abgeschlossen werden. Weil es vor allem darum geht, Markierungen auf die Fahrbahn zu bringen und Verkehrszeichen aufzustellen, wäre das Vorhaben kostengünstig. Stellflächen für rund hundert Fahrräder seien ebenfalls geplant. „Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es uns auch um die Fußgänger geht“, so die Stadträtin. Für sie seien 18 sichere Querungsmöglichkeiten geplant.

SPD und Grüne im Bezirk bilden eine Zählgemeinschaft – eigentlich

Doch nun stehen die Signale erst einmal wieder auf Halt. Grund ist der am Donnerstag kurzfristig eingebrachte Antrag der SPD und FDP, der am kommenden Mittwoch auch auf der Tagesordnung der BVV-Sitzung steht. Er sieht unter anderem vor, alle Parkplätze auf dem Südabschnitt zwischen Renée-Sintenis-Platz und der Bundesallee zu erhalten. Dies sei notwendig, um den „Parkplatzsuchverkehr zu reduzieren und keine Gefährdungen durch zusätzlichen Verkehr zu verursachen“, heißt es.

Der Südabschnitt führt vom Renée-Sintenis-Platz zur Bundesallee. Der Bezirk will die Querparkplätze erhalten und die Längsparkplätze links streichen. Der nun beschlossene Antrag fordert den Erhalt aller Autostellflächen.
Der Südabschnitt führt vom Renée-Sintenis-Platz zur Bundesallee. Der Bezirk will die Querparkplätze erhalten und die Längsparkplätze links streichen. Der nun beschlossene Antrag fordert den Erhalt aller Autostellflächen.Berliner Zeitung/Peter Neumann

Den Parksuchverkehr ansteigen zu lassen, indem Stellplätze aufgehoben werden, sei angesichts der Klimakatastrophe „nicht zielführend“, sagte die SPD-Bezirksverordnete Annette Hertlein im Ausschuss. Ebenso wenig sinnvoll wäre es, eine Verkehrsart wie den Radverkehr zu bevorzugen. „Ich möchte in einer Stadt wohnen, in der alle gut nebeneinander leben können und in der sich Autofahrer nicht vertrieben fühlen“, so die Sprecherin für Verkehrspolitik der Bezirks-SPD, die eigentlich eine Zählgemeinschaft mit den Grünen gebildet hat.

„Wir können nichts anordnen, was geltenden Standards widerspricht“

Die SPD sei für die Fahrradstraße, allerdings habe die Planung „noch nicht das Optimum“ erreicht, sagte ihr Fraktionskollege Jan Rauchfuß. Die SPD wolle eine „pragmatische Lösung“, zu der es gehöre, Parkplätze zu erhalten. Das Regelwerk für Fahrradstraßen sei kein Landesgesetz. „Akzeptanz bekommen wir nur, wenn wir gute Ideen mit gutem Handwerk auf die Straße bringen.“ Der Antrag 305/XXI der SPD und FDP wurde mit zwölf Ja-Stimmen gegen die Grünen angenommen. Darin ging es auch um den Schutz von Kindern. Es dürfe keine „Fahrradautobahn“ entstehen, auf der sie unter die Räder kommen, hieß es in einer Pressemitteilung der SPD.

Lob bekamen die Sozialdemokraten im Ausschuss unter anderen von der CDU. „Rettet die Fahrradstraße Handjerystraße das Klima?“, fragte der Bezirksverordnete Johannes Rudschies – und antwortete mit Nein. „Die Gestaltung ist verbesserungswürdig“, pflichtete Axel Bering von der FDP bei. Er sprach davon, dass E-Lastenräder Kinder und andere Fußgänger gefährden würden.

Wie geht es nun weiter? Das wird nun im Bezirksamt beraten. „Wir können nichts anordnen, was geltenden Standards widerspricht“, sagte Stadträtin Ellenbeck am Donnerstagabend. Wenn die Längsparkplätze im Südteil bleiben, reiche der Platz nicht für eine regelkonforme Anordnung aus. So viel steht fest: Das Bezirksparlament werde eine Antwort bekommen, kündigte die Grünen-Politikerin an. „Die Fahrradstraße kommt – entweder mit oder ohne Änderungen der Planungen. Das prüfen wir.“