Der Untersuchungsausschuss zur rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln ist auf den parlamentarischen Weg gebracht worden. Das Plenum des Berliner Abgeordnetenhauses stimmte am Donnerstagnachmittag mit Koalitionsmehrheit dafür, dass sich nun parallel Haupt- und Rechtsausschuss damit beschäftigen sollen. Das ist Voraussetzung für eine Konstituierung. Hält der Zeitplan, kann der Ausschuss noch vor der Sommerpause seine Arbeit beginnen.
Der Ausschuss selbst ist zunächst ein gigantisches Zahlenwerk. Zu dieser Serie werden vor allem zwischen 2016 und 2019 mindestens 72 Taten gezählt, davon mindestens 14 Brandstiftungen. Dabei wurden auch Autos angezündet. Gegen zwei verdächtige Männer aus der rechtsextremen Szene wurde nach jahrelangen Ermittlungen Anklage wegen schwerer Brandstiftung, Sachbeschädigungen und Bedrohungen erhoben.
Vor einem Jahr hatten zwei vom Senat eingesetzte Sonderermittler festgestellt, dass Polizei und Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen Fehler gemacht hatten. So habe die Justiz den Seriencharakter der Taten erst ab 2016 wahrhaben wollen, obwohl es entsprechende Berichte der Polizei gegeben habe. Ein Katalog von 60 Fragen liegt jetzt auf dem Tisch. Obwohl die elf Ausschussmitglieder plus Vorsitzendem voraussichtlich alle zwei Wochen tagen werden, ist mit einer Dauer von mindestens zwei bis drei Jahren zu rechnen, bis alle Akten ausgewertet und alle Zeugen vernommen sind. Der Abschlussbericht, so viel ist schon sicher, wird mehr als 1000 Seiten dick sein.

Der Abschlussbericht dürfte mehr als 1000 Seiten dick werden
Das eigentlich Bemerkenswerte an dem Großvorhaben ist aber, dass nicht wie üblich die parlamentarische Opposition diesen Untersuchungsausschuss will: Es ist die Regierungskoalition. SPD, Grüne und Linke haben sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt. Gefordert hatte das besonders die Linke und auch die Grünen, die SPD stimmte schließlich zu.
Die Opposition befindet sich eher in der Rolle von interessierten Zuschauern (FDP), Verteidigern (CDU, insbesondere dann, wenn etwa Ex-Innensenator Henkel oder der ehemalige Polizeipräsident Klaus Kandt als Zeugen geladen werden sollen) oder im Falle der AfD auch von Angeklagten. Mindestens ein Verdächtiger war eine Zeit lang Mitglied der Partei.
Die Regierungskoalition will den Ausschuss, die Opposition nicht unbedingt
Allerdings gibt es auch innerhalb des Regierungsbündnisses unterschiedliche Bewertungen, insbesondere zur Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft. In Neukölln hat sich im Laufe der Jahre eine Mischung aus Misstrauen und Unterstellungen gegenüber dem Sicherheits- und Ermittlungsapparat breitgemacht.
Haben die Behörden die Serie ernst genug genommen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Mord an dem Briten Luke Holland im September 2015 an der Ringbahnstraße und jenem an dem türkischstämmigen Berliner Burak Bektas drei Jahre zuvor an der Rudower Straße im Bezirk? Während der Holland-Mord zur Verurteilung eines Täters zu elf Jahren Haft führte, ist die Bektas-Tat bis heute nicht aufgeklärt.
Wurde jemals in Betracht gezogen, dass die vor allem im Neuköllner Süden starke rechte Szene Kontakte zum Umfeld zum sogenannten Nationalsozialisten Untergrund (NSU) haben könnte? Schließlich geschah der Mord an Burak Bektas nur wenige Monate, nachdem die neonazistische terroristische Vereinigung aufflog. Und in letzter Konsequenz stellen viele die Frage: Waren die Ermittler blind auf dem rechten Auge?
Wurden Verbindungen zu den NSU-Terroristen ausreichend beleuchtet?
In der vergangenen Legislaturperiode setzte der damalige rot-rot-grüne Senat deshalb bereits Sonderermittler ein. Diese stellten schließlich fest, dass Polizei und Staatsanwaltschaft Fehler gemacht hätten. Während die Polizei ihre Arbeit „grundsätzlich ordentlich verrichtet“ habe, habe es bei Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz Umstände gegeben, die „kritikwürdig und verbesserungswürdig“ seien, hieß es in dem Bericht. Auch die Kommunikation mit den Opfern der Anschläge sei nicht optimal gewesen. Hinweise auf rechtsextreme Netzwerke in der Polizei fanden sie jedenfalls nicht.
Ein Parlamentarier ist Opfer, Zeuge und Aufklärer zugleich
Doch das hat nicht alle überzeugt. Einer davon ist Ferat Kocak. Dem Linke-Politiker fällt eine ganz besondere Rolle zu. Er ist neu im Parlament – im Ausschuss wird Kocak als Opfer Zeuge sein und gleichzeitig als Parlamentarier Aufklärer. Im Februar 2018 wurde sein Auto angezündet, das neben dem Wohnhaus seiner Eltern in Rudow parkte. Seine Mutter erlitt einen Herzinfarkt. Erst nach dem Anschlag erfuhr Kocak, dass das Landeskriminalamt (LKA) im Vorfeld Hinweise darauf gehabt hatte, dass er von Neonazis verfolgt und ausgespäht wurde. Er wurde nicht darüber informiert oder gar gewarnt.
Es ist dieser oft rüde und empathielos wirkende Umgang mit Opfern und auch Hinterbliebenen, der bei vielen extrabitter aufstößt. Überdies bleibt eine tatsächlich wohl unmöglich einzulösende Forderung nach vollständiger Aufklärung.
Orkan Özdemir formuliert das anders. „Es gibt den dringenden Wunsch, den Ausschuss als parlamentarisches Mittel einzusetzen, um zu schauen, was da rauszuholen ist“, sagt der SPD-Abgeordnete im Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Wir wollen das letzte Mittel nutzen.“
Der SPD-Ausschussvorsitzende wirbt für einen differenzierten Umgang
Auch Özdemir ist neu im Abgeordnetenhaus und dürfte als Vertreter der größten Fraktion gleich Ausschussvorsitzender werden. Aber nicht nur deswegen kommt ihm eine besondere Rolle zu. Im Wahlkampf wurde er nach eigenen Angaben bedroht und terrorisiert, ein Großteil seiner Plakate zerstört. „Ich weiß, wie sich das Gefühl von Ohnmacht anfühlt“, sagt er. Er wisse aber auch, wie schwierig die Aufklärung solcher Taten oder auch von Brandanschlägen auf Autos sei, weil es oft weder Zeugen noch Spuren gebe.
Orkan Özdemir wirbt für einen differenzierten Blick. Natürlich brauche es bessere, zugewandtere Opferarbeit sowie Konzepte für ein besseres Betreuungs- und Sicherheitsgefühl. Aber: „Wer mir erzählen will, dass die Polizei eine rassistische Organisation ist, der irrt.“
Am Donnerstag im Parlament waren die Rollen klar verteilt: Die Redner der Koalition verteidigten den Ausschuss. Redner der Opposition machten dagegen deutlich, dass sie ihn für sinnlos, wenn nicht sogar schädlich hielten. „Es geht Ihnen doch gar nicht um Aufklärung, sondern um Anklage“, hielt der CDU-Rechtspolitiker Alexander Herrmann der Linke-Fraktion vor. Das Vorgehen von Polizei und Strafverfolgern sei durch die Einsetzung von Sonderkommissionen und die Einrichtung einer Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Fokus der Polizei mehrfach und beispielhaft überprüft worden. Ein Untersuchungsausschuss bediene dagegen Vorurteile, „und er schürt einen Generalverdacht“, so Herrmann.
