Es ist kurz vor 13 Uhr an diesem Sonntag, als sich drei Polizeibeamte in voller Montur vor der Garderobe der Dragqueens Kaey und Vivienne Lovecraft aufstellen. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, die es so im Humboldt-Forum in Mitte noch nicht gab – zumindest nicht bei einem Familiennachmittag im sogenannten Weltstudio der Ausstellung Berlin Global, bei dem Kindern anlässlich des UN-Kinderrechtstags aus Bilderbüchern vorgelesen wird.
Die als Dragqueens auftretenden Künstler verlassen kurz darauf in bunten Gewändern und reichlich geschminkt die gut bewachte Garderobe. Kaey hat ein Kleid an, das nicht voller Pailletten, dafür voller Plüschtiere hängt. Vivienne Lovecraft, ganz in weiß, hält die Bilderbücher in der Hand, aus denen sie vorlesen wollen. „Teddy Tilly“ ist eines davon, das andere heißt „Anton will Prinzessin sein“.
Der Raum, in dem sie lesen werden, ist voll. Kinder toben herum, sie werden still, als sich die Dragqueens an die Mikrofone setzen. Zwei Bodyguards halten sich im Hintergrund auf. An diesem Tag ist filmen und fotografieren verboten – aus Sicherheitsbedenken.
Die Gründe stehen vor dem Haupteingang des Humboldt-Forums. Die AfD hat unter dem Titel „Finger weg von unseren Kindern!“ zu einer Protestveranstaltung gegen die Lesung der Dragqueens eingeladen. Doch nur rund 30 Anhänger der rechtsextremen Partei halten an diesem Nachmittag Plakate hoch, auf denen steht: „Kinder + Erwachsene + Sex = keine gute Idee“. Oder „In die Moschee traut ihr euch nicht.“
Die Redner bekunden, wie gefährdet Kinder in Berlin seien – besonders offenbar im Umfeld queerer Menschen. „Fremde Personen spielen mit fremden Kindern“, betont ein Redner, als er von einer queeren Kita in der Hauptstadt spricht. Buh-Rufe werden laut. Eine Frau dreht sich weg, als sie nach ihren Gründen für den Protest gefragt wird.

Auf der anderen Straßenseite hat der Verein „Die Vielen“ lautstark zu einer Gegendemonstration eingeladen. Es sind weitaus mehr, als die Anhänger der AfD. Rund 250 Menschen sind gekommen. Anhänger der „Omas gegen rechts“ sind ebenso darunter wie Niklas, der nach eigenen Angaben „nur gegen diese AfD“ ist, weil sie das freie Leben in der Stadt kaputt mache.
„Wir sind heute hier, weil wir uns solidarisch mit den Dragqueens zeigen. Wir stehen ein für ein buntes und vielfältiges und queeres Berlin“, sagt Heinrich Horwitz vom Vorstand des Vereins „Die Vielen“, der ein Megafon in der Hand hält. Hinter ihm wird ein Ruf laut: „Schützt die Kinder vor der AfD.“ Er wird vielfach wiederholt.
Kurz darauf stimmt eine Dragqueen aus den Reihen der Gegendemonstranten einen Canon an, der lauthals aufgegriffen wird: „Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen den Faschismus hier im Land“, hallt es über den Platz.
15 Plüschbären und Ernie aus der Sesamstraße
Im Vorlesesaal hat indes Maria mit ihre vierjährigen Tochter Platz genommen. Das Kind hat es bis ganz nach vorn geschafft, sitzt nun gebannt neben anderen Mädchen und Jungen. Maria hat mit ihrem Kind schon einmal bei einer Lesung von Dragqueens teilgenommen und der Tochter und ihr habe es sehr gut gefallen, wie sie sagt. Weil es auch ein Mitmach-Programm sei. „Meine Tochter verkleidet sich sehr gern und sie mag es, wenn ihr jemand Geschichten vorliest“, sagt die 34-Jährige.
Es wird nicht nur vorgelesen. Wer schon einmal einen Roboter gehabt habe, fragt Dragqueen Kaey. Viele Kinder melden sich, erzählen drauf los. Dann geht es um die Farbe des Kleides, das eine Prinzessin trägt. Weiß, rot, blau, rufen die Kinder durcheinander. Irgendwann sollen die Mädchen und Jungen die Teddys an Kaeys Kostüm zählen. Sie kommen auf 15. Doch auch ein Plüsch-Nemo erkennen die Kinder, und den Ernie aus der Sesamstraße.
Sie hätten schon öfter Kindern vorgelesen, sagt Dragqueen Kaey in einer Pause zwischen den drei angebotenen Lesungen. Es habe immer Spaß gemacht, und den Kindern und Eltern habe ihr Programm auch gefallen. „Wir lesen nur vor“, sagt Vivienne Lovecraft. Den Vorwurf, den die AfD ihnen mache, nennt sie absurd. Ihr Auftritt habe nichts mit Sex zu tun. Als sie von dem Protest der AfD gehört habe, sei ihr schon mulmig geworden. Es sei kein gutes Gefühl, wenn die Polizei bei der Lesung dabei sein müsse.

Vor zwei Jahren war es wegen einer Lesung einer Dragqueen in Bayern erstmal zu Diskussionen wegen einer angeblichen Frühsexualisierung der Kinder gekommen, obwohl es auch bei dieser Lesung nicht um Sexualität ging. Nicht nur die AfD hatte gegen die Veranstaltung protestiert. Bayerns stellvertretender Ministerpräsident Hubert Aiwanger von den Freien Wählern sprach von Kindeswohlgefährdung. Sogar Münchens SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter erklärte, er würde mit seinen Enkeln nicht zu so einer Veranstaltung gehen. Wenig später entschuldigte er sich dafür.
Gegner solcher Veranstaltungen fühlten sich nach Berichten vom Oktober dieses Jahres bestärkt, nach denen es Ermittlungen gegen Mario O., auch bekannt als die bekannte Berliner Dragqueen Jurassica Parka, gibt. Der Künstler war schon einmal wegen Kinderpornografie verurteilt worden und geriet nun erneut ins Visier der Berliner Staatsanwaltschaft. Mehrere Weggefährten, die als Dragqueen-Kunstfiguren auftreten, haben sich seitdem von dem Travestiekünstler abgewandt.
Die Affäre sorgt auch deswegen für Aufsehen, weil Jurassica Parka, obwohl vorbestraft, im vorigen Jahr als Vorleserin beim Festival „Queens and Flowers“ im Botanischen Garten auftreten konnte. Mario O. hatte dabei bei einer „Drag Reading Hour“ Kindern vorgelesen. Das Festival selbst war über die Senatsverwaltung für Wirtschaft vom Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf mit 40.000 Euro finanziert worden.
Bei der Lesung an diesem Sonntag ist auch Alfonso Pantisano, die Ansprechperson Queeres Berlin, zugegen. Fragen zu der Veranstaltung im Humboldt-Forum will er nicht beantworten. Er habe schon genug gesagt, erklärt Pantisano.

Sophie Plagemann indes redet. „Es geht bei diesen Lesungen überhaupt nicht um Sexualität“, sagt die Vorständin und künstlerische Direktorin der Stiftung Stadtmuseum, die zu der Bilderbuch-Lesung im Humboldt-Forum eingeladen hat. Vielmehr stehe Freundschaft und gesellschaftliche Vielfalt im Mittelpunkt. Drag sei eine künstlerische Ausdrucksform des Verkleidens und Übertreibens - vergleichbar mit dem Theater oder Kostümfesten.
Das Bild, das die AfD von Dragqueens vermittele, entspreche nicht der Realität. Es sei vielmehr diffamierend. „Wir lehnen den Versuch ab, sich in unsere Programmgestaltung einzumischen“, sagt Plagemann. Berlin sei eine vielseitige und diverse Stadt.


