Verkehr

Ungewöhnliche Begegnung: Die Diesel-Weißwurst fuhr durch Rudow

Wo sonst nur Güterzüge verkehren, rollte ein ICE durch den Süden Berlins. Es handelte sich um einen besonderen Zug – mit einer besonderen Mission.

So ein Zug ist hier noch nie gefahren. Das advanced TrainLab kreuzt eine Straße im Süden von Neukölln. Ein Posten sichert den Bahnübergang, damit der Diesel-ICE passieren kann.
So ein Zug ist hier noch nie gefahren. Das advanced TrainLab kreuzt eine Straße im Süden von Neukölln. Ein Posten sichert den Bahnübergang, damit der Diesel-ICE passieren kann.Deutsche Bahn/Pablo Castagnola

So etwas hatten die Autofahrer auf dem Buckower Damm oder der Johannisthaler Chaussee noch nicht gesehen. Auch die Anwohner des Wildhüterwegs, der Tischlerzeile und anderer Wohnstraßen im Süden von Berlin hatten Grund, sich zu wundern. Erstmals fuhr ein Intercity Express (ICE) der Deutschen Bahn von Neukölln nach Rudow und wieder zurück. Der weiße Triebzug kreuzte Bahnübergänge und rollte gemächlich mit Tempo 20 an Gewerbegrundstücken, Kleingärten sowie Eigenheimen vorbei. Im Schatten der Gropiusstadt pausierte er, um dann zurückzufahren.

Normalerweise ist auf der privaten Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn, kurz NME, ausschließlich Güterverkehr unterwegs - und das inzwischen auch nur ziemlich selten. Hin und wieder fährt ein Zug zu einem Tanklager in Rudow, sonst ist die traditionsreiche Bahnlinie verwaist. Dabei waren einst rund 100 Betriebe mit Gleisen an die Strecke angeschlossen. Noch 1987 gab es 15 Anschlüsse. Über eine fünf Kilometer lange Trasse war auch der damalige Flughafen Tempelhof mit der NME verbunden. Während der sowjetischen Blockade 1948/49 wurde die Kohle, die über die Luftbrücke ankam, dort abgefahren- unter Umgehung der Deutschen Reichsbahn, die der DDR gehörte. 

Dampfzüge und Triebwagen brachten Berliner Ausflügler ins Umland und Brandenburger Pendler in die Stadt. Regulären Personenverkehr gibt es auf der NME aber schon lange nicht mehr. 1955 fuhr der Triebwagenpendel zwischen Hermannstraße,, Britz, Buckow und Rudow zum letzten Mal. Auf der Strecke, die einst über Rudow hinaus nach Schönefeld und Mittenwalde südlich von Berlin führte, ist es ruhig geworden.

In Rudow kam die Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn der DDR-Grenze ziemlich nahe. 1948 wurde die Strecke ins Umland unterbrochen.
In Rudow kam die Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn der DDR-Grenze ziemlich nahe. 1948 wurde die Strecke ins Umland unterbrochen.NME

Deshalb traf der Wunsch der Deutschen Bahn (DB), mit dem advanced TrainLab die Trasse zu befahren, bei NME-Vorstand Klaus Britze auf Entgegenkommen. Wie erst jetzt bekannt wurde, war der ICE 605 017-2, der mit Biodiesel betrieben wird, dort am Nachmittag des 1. September zu Gast. Vom Bahnhof Hermannstraße, wo die Strecke ans Netz der DB anschließt, rollte der 107 Meter lange Zug knapp zehn Kilometer weit zum Zwickauer Damm und wieder zurück. Auf den zahlreichen Bahnübergängen mussten Posten den Verkehr sichern. Und Autofahrer fragten sich: Was ist da los?

Rollendes Labor für Bahntechnologien

TrainLab: Der Name verrät, dass es sich um keinen normalen ICE handelt. Zwar hat der Zug einst tatsächlich Fahrgäste befördert, etwa zwischen Sachsen und Bayern, später auf der Vogelfluglinie zwischen Hamburg und Kopenhagen. Doch mit jeweils vier Wagen erwiesen sich die Diesel-ICE (Spitzname Diesel-Weißwurst) als zu klein für den Fernverkehr. Anfangs trugen auch technische Probleme zu der mangelnden Rentabilität bei. Während die meisten ICE-TD aus dem Betrieb genommen wurden, kam 605 017 in den Genuss eines Umbaus. Antennen, Sensoren und Kameras wurden installiert. Die Technik kann dabei helfen, Objekte, Hindernisse, das Umfeld des Zuges zu erkennen. So wurde zum Beispiel schon erprobt, ob sie automatisiertes Bremsen erlaubt. In letzter Konsequenz geht es darum, bei der Bahn autonomes Fahren zu ermöglichen.

Mit Tempo 10 durch den Südwesten Berlins: Am 10. Februar 2021 war das advanced TrainLab auf der Goerzbahn zwischen Lichterfelde West und Schönow unterwegs.
Mit Tempo 10 durch den Südwesten Berlins: Am 10. Februar 2021 war das advanced TrainLab auf der Goerzbahn zwischen Lichterfelde West und Schönow unterwegs.Deutsche Bahn

„Die Nachfrage nach mehr öffentlichem Nahverkehr wächst stetig, insbesondere in dicht besiedelten Ballungsräumen wie Berlin. Häufig fehlt es gerade hier an Platz, um die Infrastruktur weiter auszubauen“, erklärte ein Bahnsprecher. „Digitalisierung schafft die nötigen Kapazitäten, damit auf dem bestehenden Netz deutlich mehr Züge fahren können. Die dafür nötigen Technologien testet die Deutsche Bahn an Bord des Versuchszugs advanced TrainLab.“

Von Lichterfelde West nach Schönow im Schleichtempo

Deshalb sind Zugchef Tobias Fischer und seine Crew mit ihrem Diesel-ICE in ganz Deutschland unterwegs. Auch zwischen Wannsee und Lichterfelde West im Südwesten von Berlin wurde der Zug schon gesichtet. Anfang 2021 rollte das TrainLab über die Goerzbahn, die von Lichterfelde West zum Zehlendorfer Ortsteil Schönow führt. Deren Gleis wird an mehr als 40 Stellen von Wegen und Straßen gekreuzt – ein hervorragend geeignetes Testfeld, um die Sensorik zu erproben. Der Lokführer musste sich aber zurückhalten: Der ICE-TD schafft 200 Kilometer in der Stunde, doch auf der Goerzbahn musste er sich meist auf Tempo 10 beschränken.

Allerdings ist die Strecke, die ihren regulären Güterverkehr 2018 verlor, auch ein rechtlich kompliziertes Terrain. Momentan wird sie vom Bund verwaltet, für die Touren im vergangenen Jahr musste das Eisenbahn-Bundesamt eine Ausnahmegenehmigung erteilen. Mittelfristig soll die Strecke in die Verantwortung des Bezirks Steglitz-Zehlendorf übergeben, hieß es bei der DB. Bei der NME, die sich in Privatbesitz befindet, war die Sache einfacher. Es waren nicht viele Schritte zu gehen, da war die Sache geritzt.

Einst wurden auf dem Güterbahnhof Teltowkanal der NME auch Müllcontainer der BSR umgeschlagen.
Einst wurden auf dem Güterbahnhof Teltowkanal der NME auch Müllcontainer der BSR umgeschlagen.NME

Die Strecke in Neukölln wurde für den vergangenen Freitag auch deshalb gewählt, weil Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey mitfahren sollte. Die SPD-Politikerin war dort Bezirksbürgermeisterin. Dazu kam es dann doch nicht, aber die Fahrt fand trotzdem statt. Die Sensoren blieben diesmal ausgeschaltet, bei der Tour nach Rudow und zurück ging es um ein anderes Testthema.

„Das Forschungsprojekt RailChain der DB Systel GmbH feierte vergangene Woche nach drei Jahren seinen Abschluss“, berichtete Nicole Göbel, die Chefin des DB-Tochterunternehmens. Ziel  war es, fälschungssichere digitale Identitäten und Datenaufzeichnung für den Bahnbetrieb zu evaluieren. Die Teilnehmer der Fahrt konnten die Technologie live erleben, so Göbel.

Wird es weitere Fahrten mit dem ICE durch den Neuköllner Süden geben? „Das ist nicht ausgeschlossen“, heißt es bei der Bahn.