Berlin-Die Bauingenieure hatten gehofft, dass sie um einen Abriss herumkommen. Doch nun ist klar: Der Waisentunnel unter der Spree kann nicht mehr saniert werden. Das unterirdische Bauwerk, das sich nicht weit von der Jannowitzbrücke in Mitte befindet, muss abgetragen werden. „Es wird einen Neubau geben“, sagte Petra Nelken, Sprecherin der landeseigenen Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), der Berliner Zeitung. Absehbar ist, dass das Projekt baulich anspruchsvoll und teuer wird. Nelken sprach von einer zweistelligen Millionensumme. Doch eine Alternative sieht man bei der BVG nicht, denn der 865 Meter lange Waisentunnel ist ein wichtiger Teil des U-Bahn-Netzes.
Der Tunnel verbindet die Linie U5 mit der Linie U8. Reguläre U-Bahn-Züge mit Fahrgästen waren dort nie unterwegs, er ist für Überführungs- und andere Betriebsfahrten wichtig. Die letzte U-Bahn-Fahrt im Waisentunnel liegt schon fünf Jahre zurück, seit dem 7. Mai 2016 war dort kein Zug mehr unterwegs. Zwar begannen danach erste Sanierungsarbeiten, aber nachdem Statiker den Bauwerkszustand mit der Note 4, ungenügend, bewertet hatten, schloss die BVG 2017 den Tunnel.
Schauplatz einer spektakulären Flucht aus der DDR
Seitdem ist die U5 ein isolierter Inselbetrieb, was den Aufwand für die BVG enorm erhöht – insbesondere, wenn U-Bahnen zur Hauptuntersuchung müssen. Weil der Schienenweg unterbrochen ist, werden die Zugverbände in Friedrichsfelde getrennt und die Wagen einzeln auf Lastwagenanhänger geladen. Nach der Lkw-Fahrt quer durch Berlin müssen sie in Britz wieder aufgegleist werden, um zur Hauptwerkstatt Seestraße weiterzufahren. Handelt es sich um jüngere Fahrzeugexemplare der Baureihe H, sind sogar noch weitere langwierige Arbeitsschritte nötig. Denn für die Überführung nach Wedding müssen die Zugverbände erst einmal wieder zusammengesetzt werden, heißt es bei der BVG.
Es handelt sich um ein ziemlich altes Bauwerk. Im Spätherbst 1914 begannen die Arbeiten für die 180 Meter lange Spreeunterquerung, die Teil der geplanten U-Bahn-Verbindung zwischen Gesundbrunnen und Neukölln werden sollte. Vier Jahre später, am Ende des Ersten Weltkriegs, war der Tunnel unter dem Fluss im Rohbau fertig. Doch die AEG, die das U-Bahn-Projekt einst in Angriff genommen hatte, zog sich zurück. Das Unternehmen versprach sich keinen Gewinn mehr davon. Die Stadt Berlin setzte den Bau 1926 fort. Die unterirdische Strecke in diesem Teil von Mitte wurde aber nach Osten verschoben, um die Umsteigewege im U-Bahnhof Alexanderplatz zu verkürzen. 1930 begann auf der heutigen U8 der Betrieb. Auch auf der U5 rollen seither Züge. Der Waisentunnel wurde ebenfalls eröffnet, allerdings bekam die Weströhre keine Schienen.

Am Abend des 8. März 1980 war der Tunnel Schauplatz einer spektakulären Flucht. Dieter Wendt, Stellwerksmechaniker bei den Ost-Berliner Verkehrsbetrieben BVB, geleitete seinen Cousin sowie dessen Frau und zweijährigen Sohn heimlich durch den Waisentunnel. Die Familie kletterte eine Leiter hoch, wartete in der mittleren Wehrkammer bei Kerzenlicht. Dort holte Wendt sie später wieder ab. Gemeinsam gingen sie in den Tunnel der U8, wo Wendt eine U-Bahn anhielt. Auf dem Boden des Führerstands reisten die Anhalter unentdeckt in den Westen Berlins aus.
Jahrelang ging das Vorhaben, den Waisentunnel zu sanieren und wieder ans U-Bahn-Netz anzuschließen, nur langsam voran. Immer wieder gab es lange Pausen. Nachdem das Tochterunternehmen BVG Projekt GmbH die Angelegenheit übernommen hatte, nahm das Tempo zu. Die Ingenieure ließen untersuchen, ob es möglich wäre, das Bauwerk im Untergrund zu erneuern. Doch die Untersuchungen bestätigten, dass es in einem sehr schlechten Zustand ist – was der Tatsache geschuldet sein könnte, dass es in Kriegszeiten entstand. Fast von Anfang an gab es Probleme mit Wasser, das in das rund 10,50 Meter breite und sechs Meter hohe Tunnelbauwerk eindrang. Eine zusätzliche Innenschale, die in den 1930er-Jahren eingebaut wurde, brachte keine Verbesserung.

Nun steht also fest: Die BVG kommt um Abriss und Neubau des Waisentunnels nicht herum. „Eine Erneuerung im Bestand ist nicht möglich“, so BVG-Sprecherin Petra Nelken. Jetzt geht man daran, die Pläne für einen Ersatzneubau zu erarbeiten. Eine Variante, die nun geprüft wird, würde darauf hinauslaufen, die Tunnelsegmente an Land zu bauen und die Betonteile ins Flussbett herabzusenken. Momentan rechnet man noch damit, dass die Kosten unter 50 Millionen Euro liegen werden. Ob ein Planfeststellungsverfahren erforderlich wird, ist dagegen noch ungewiss. „Darüber sprechen wir mit der zuständigen Behörde“, so Nelken. Bislang war von einer dreijährigen Bauzeit die Rede. Bei dem Landesunternehmen hofft man, dass der neue Waisentunnel 2026 in Betrieb gehen kann.
„Die Probleme beim Waisentunnel zeigen, dass wir die Instandhaltung bei der U-Bahn nicht vernachlässigen dürfen. Neubau und Instandhaltung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden“, sagte der SPD-Abgeordnete Sven Heinemann, der sich als Haushälter immer wieder mit dem öffentlichen Nahverkehr befasst. „Investitionen dürfen nicht auf die lange Bank geschoben werden. Denn billiger werden die nötigen Arbeiten dann meist nicht. Die Investitionsplanung von BVG und Senat müssen wir uns bei den anstehenden Haushaltsberatungen genau angucken.“


