Sobald der Sommer sich dem Ende zuneigt, setzt bei mir jedes Jahr ein großes Heulen und Zähneklappern ein – spätestens im Oktober, wenn die ersten Blätter fallen und ich mir vorstelle, dass der triste Berliner Winter gerade erst beginnt und frisches Blattgrün nicht vor April zu erwarten ist. Ein verdammtes halbes Jahr lang: von der Arbeit im Dunkeln nach Hause kommen, beim Radfahren frieren, kalter Nieselregen, trüb-grauer Winterhimmel. Dazu ab Neujahr Tannengestrüpp, Rollsplitt und Silvesterdreck in der ganzen Stadt – ich will das alles nicht! In dieser Stimmung ist jeder Sonnentag „der letzte schöne Tag des Jahres“ und der erste Nachtfrost nichts weniger als ein Vorbote der Apokalypse.
Offensichtlich geht es nicht nur mir so. Allein in dieser Zeitung allgegenwärtiges Gejammer: Tom Beck und Chryssanthi Kavazi beklagen das triste und traurige Wetter von November bis März. Suri Manelis beschreibt „die Saison, in der man Berlin am liebsten verlässt. … In der Singles beim Plätzchenbacken Tränen einer besonders im kalten Berlin unerbittlichen Einsamkeit in den Teig mischen.“ Selbst Besuchern aus dem Ausland fällt diese spezielle Berlin-Tristesse auf, so wie dem Amerikaner Evan Edinger in einem seiner YouTube-Clips: „Berliners lose all their happiness, and they go: Yes, aber it will be winter very soon, and I will be very sad.“
Offensichtlich sind wir Berliner allesamt Heulsusen, ein wehleidiger Chor von Winterjammerlappen. Von kitschig-kollektiver Schwermut befallen, über sechs endlose Monate hinweg.
Kann man denn nichts dagegen tun? Suri Manelis weiß Rat: „Man braucht vor allem eine Mission. Einen Grund, morgens aufzustehen, hinauszugehen in diese graue, müde Stadt.“ Ja, eine Mission könnte helfen, oder besser zwei: eine, um morgens das Haus zu verlassen, und eine, um sich abends darin nicht zu langweilen. Und so versuchen verzagte Menschen, sich Rezepturen gegen den Winterblues zusammenzubrauen, aus Vorsätzen, Trotz und Illusionen – und oft genug auch aus jeder Menge Rauschmitteln.
Natürlich funktioniert das nur begrenzt. Wäre es einfach, gäbe es die Gruselmär vom Berliner Winter nicht und niemand würde ihn fürchten. Doch es gibt noch einen zweiten Weg, geeignet vor allem für echte Berliner, die den Fatalismus längst zu ihrer Lebensmaxime erhoben haben. Sie halten es mit Sven Marquardt, dem berühmten Sohn unserer Stadt, der in seiner Autobiografie „Die Nacht ist Leben“ so wunderbar seine Einstellung zu Melancholie, zu Abschieden und emotionalen Löchern beschreibt, in denen er es sich gern zu Hause gemütlich macht.
Ja, es ist traurig, dass der Sommer sich verabschiedet hat. So wie jedem von uns in diesem Jahr auch traurige Dinge zugestoßen sind, an die man gerade in dieser Zeit besonders erinnert wird: der Verwandte, der viel zu früh an Krebs starb, die liebgewonnene Kollegin, die plötzlich nicht mehr da ist. Dieser Trauer darf man sich auch einfach mal genüsslich hingeben. Auf Rausch folgt Kater, auf Eskalation folgt Absturz – und auf den wunderbaren Berliner Sommer voller Sonne, Partys und Leben folgt eben der trostlose Winter. So ist das Leben, und dass es uns betrübt, zeigt doch vor allem dies: Wir fühlen, wir leben.
Also – genießen wir doch einfach in diesen Wochen und vor allem am Totensonntag die „abschiedige“ Stimmung, gehen mit Regenschirm auf einem Friedhof spazieren und schlurfen mit Stiefeln durch das nasse Herbstlaub. Lassen unserer Betrübnis freien Lauf und unsere Gesichter vom Regen benetzen. Eigentlich ist es doch beruhigend, dass wir Berliner mit unserem ruinierten Ruf gar nichts sein müssen: nicht freundlich, nicht fröhlich, und schon gar nicht optimistisch.
