„Hab keine Angst“, sage ich zu meinem Vater. Reiche ihm meine Hand und er greift hinein. Ich ziehe ihn fest und dann steht er neben mir, und ich weiß nicht, ob er feuchte Augen hat oder seine Augen nur tränen, weil es so kalt ist. „Es ist unglaublich“, sagt er mir und greift mir an den Ellbogen und streichelt ihn, so wie das nur Väter machen, die auf die Schulter klopfen als zarte Geste verstehen.
Vorsichtig läuft er, kleine Schritte, die Arme vom Körper gestreckt wie die Flügel eines startenden Storchs, die Beine staksen. Wir stehen in einem Fjord, die Sonne wirft scharfe Schatten über die Kanten dieser alten Berge.
„Nicht so weit“, sage ich zu meinem Vater und bitte ihn, vorsichtig zu sein. Denn wir unternehmen etwas sehr Gefährliches. Wir stehen gemeinsam auf einer Eisscholle, dreieinhalb Stunden von Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, entfernt. Wir stehen hier, weil ich in Grönland arbeiten muss und mein Vater erst kürzlich 70 wurde.
Mein Geschenk für ihn: Er darf mitkommen, mich auf einer Recherche begleiten. Nach Grönland, davon träumte er schon, als der Fernsehturm noch keine Kugel hatte und die Karl-Marx-Allee gerade entstand.
Ich weiß, dass er im Vorfeld große Angst hatte, mit mir eine Reise zu machen, weil er das eigentlich nicht mag. Am liebsten würde er immer an die Orte fahren, die ihm sicher erscheinen, die er kennt. Das ist der Harz, vielleicht die sächsische Schweiz und ja, auch Israel. Da fühlt er sich zwischen all dem Bauhaus wohl.

Aber jetzt ist er mit mir in Grönland und es macht ihn glücklich. Ich habe damit nicht gerechnet. Mein Vater, der zart, aber nicht locker ist, wird plötzlich heiter. Eine Heiterkeit, die ich schon lange nicht mehr bei ihm beobachten konnte.
Er rasiert sich nicht den Bart, trägt ein kariertes Hemd, trinkt alkoholfreies Bier und leckt jetzt, in diesem Moment an einer Eisscholle. „4000 Jahre altes Eis“, ruft er aufgeregt, Dampf vor seinem Mund, die Augen aufgerissen. Und immer wieder blickt er zu mir, weil er es nicht glauben kann.
Grönland, besonders Eisschollen, üben auf Menschen, die nicht aus Grönland oder Island kommen, eine besondere Faszination aus. Auch ich kann mich nicht dagegen wehren. Auch ich finde die Vorstellung, dass ein Gletscher eine Scholle kalbt, auf der man eine bestimmte Zeit leben kann, faszinierend.
„Könntest du dir vorstellen, hier zu zelten?“, frage ich meinen Vater und es scheint, als könne er sich gerade alles vorstellen. „Aber nur mit Schlafsack“, sagt er.
Ich muss das noch mal deutlich sagen: Mein Vater, der Angsthase, von dem ich gelernt habe, dass es gilt, Ängste zu überwinden, ist einfach mitgekommen. Mein Vater, der nach dem Mauerfall 25 Jahre gebraucht hat, um seine erste Pizza zu essen, der lieber davon träumt, die Welt zu bereisen, als sie wirklich zu bereisen.
Dieser Mann ist erst nach Island geflogen, dann nach Grönland. Fast vier Stunden mit einem winzigen Flugzeug über ewiges Eis. Nur mit Handgepäck. Er schwebt durch die Flughafenhallen, zum Mietwagen, aufs Hotelzimmer, aufs Boot, auf diese Scholle, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Als wäre er der souveräne Reisende und nicht ich. Das verblüfft mich.
„Hast du Angst auf der Scholle?“, will ich wissen. „Nur, dass du hineinfällst“, sagt er und schenkt mir einen väterlichen Blick.

„Ich kann es immer noch nicht fassen“, sagt er wieder und zeigt auf eine Feder und gefrorene Möwenkacke. „Hier haben schon Vögel gelebt“, ruft er. Er läuft in winzigen Kreisen auf dieser Scholle, die vielleicht so groß ist wie eine Zweizimmerwohnung in Berlin. „Danke“, flüstert er dann zu mir.
Diese Insel, diese Scholle, wird irgendwann verschwinden. Sie wird ihre Form ändern, sie ist vor Monaten vermutlich als riesenhaftes Stück Land aus dem Gletscher gefallen, wurde von der Sonne und Möwen so lange geformt, bis mein Vater und ich darauf spazieren konnten. Sie wird weiter schmelzen, wird ihre Form noch mehr verändern, wird auseinanderbrechen und irgendwann ist da kein Platz mehr. Nicht mal mehr für eine Feder. Die Insel, sie ist verschwunden und mit ihr alles, was hier geschehen ist.
Die Zunge meines Vaters, meine Zunge, die an diesem alten Eis geleckt haben, dieser Ort, der zu einer Erinnerung für die Ewigkeit zweier Leben wurde, nämlich meines Vaters und mir, verschwindet.
Später, auf dem Schiff, wird mein Vater still auf die namenlosen Berge Grönlands blicken. Er fragt mich, wohin es als Nächstes geht. „In die Ukraine“, sage ich. Dann ist er still, der Vater. „Ich würde mitkommen“, sagt er.






