Potsdam - Da, wo früher die Mauer war, steht jetzt wieder eine. Die alte war drei Meter hoch und aus Metall; sie trennte Ost und West. Die neue ist eine immergrüne Koniferenhecke, die einen Gitterzaun überwuchert, mannshoch. Sie verstellt den Blick auf eine Villa, deren Fassade einen neuen Anstrich vertragen könnte, und zwei Boote.
Es ist ein sonniger Septembertag, Wind weht vom Griebnitzsee, kräuselt das Wasser, kündigt den Herbst an. Das Ufer ist ein Ort zum Durchatmen, ein Stück Natur am Rande der großen Stadt. Berlin beginnt nur ein paar Hundert Meter entfernt. Und ist doch weit weg. Still liegt der Uferweg da, rissig, moosbewachsen an den Rändern. Kein Jogger, kein Radfahrer, niemand geht spazieren. Es wäre auch ein kurzes Vergnügen, dieses Stückchen öffentlicher Weg, selbst am schmalen Badesteg prangt ein Schild: „Leider privat“.
Ginge es nach den Menschen, die hinter der neuen Mauer leben, dann würde es am Griebnitzsee immer so bleiben. Sie sind die Gewinner in einem seit Jahren andauernden Streit zwischen Arm und Reich, so wurde er oft beschrieben; ein Streit zwischen der Stadt Potsdam, die aus dem Ufer gerne einen Park machen würde, und den Villenbesitzern, die nicht wollen, dass ein Weg über ihre Grundstücke führt. Deshalb haben sie Mauern hochgezogen. Entschieden ist der Streit zwar nicht. Es passiert nur einfach nichts mehr. Stillstand. Und solange bleibt alles, wie es ist.
Glamour der Filmwelt
Früher, da endete am Griebnitzsee die freie Welt, auf der anderen Seite lag die Bundesrepublik und hier die DDR. Die Grenze verlief mitten durch den See. Das Ufer war Sperrgebiet, auf dem Weg patrouillierten die Grenzer. Hundelaufbänder, Wachtürme, Schießbefehl. Oder noch früher: Als Friedrich der Große hier Maulbeerbäume pflanzen ließ und vom Treidelpfad am Ufer aus Schleppkähne den See hinauf gezogen wurden. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Villen gebaut, Neubabelsberg – wohnen, wo der Kaiser residierte. Hier zu leben, war schon immer denen vorbehalten, die es sich leisten konnten.
In die Villen am See zogen Bankiers, Fabrikanten, Professoren, Künstler, die dem Glamour der Filmstudios in Babelsberg nah sein wollten: Gustav Fröhlich, der die Hauptrolle in „Metropolis“ spielte, die Ufa-Filmdiva Lilian Harvey. Erich Kästner war hier oft zu Besuch, Marlene Dietrich und Heinz Rühmann. Ein deutsches Beverly Hills. Bis die Nazis kamen. Sie enteigneten die jüdischen Villenbesitzer, verjagten viele der Künstler. Nach 1945 wohnten Truman, Churchill und Stalin während der Potsdamer Konferenz am Griebnitzsee. Zu DDR-Zeiten zogen Kitas und Grenztruppen in die Villen.
Überfluss bringt Überdruss
Der Griebnitzsee ist einer dieser Orte, an denen sich deutsche Geschichte Schicht um Schicht überlagert. Das muss man wissen, wenn man diesen Streit verstehen will. Es gäbe ihn nicht ohne die wirren Eigentumsverhältnisse, die der Zweite Weltkrieg und die deutsche Teilung zurückließen. Es gäbe ihn auch nicht ohne dieses ganz besondere Verhältnis der Deutschen zum Wohlstand, das aus dieser Geschichte heraus entstanden ist und immer ein bisschen verkniffen und verdruckst ist.
Überfluss bringt Überdruss, das ist so ein deutscher Satz. Eigentum verpflichtet, ein anderer. Und Arthur Schopenhauer, dieser sehr deutsche Philosoph, hat einmal gesagt: „Der Reichtum gleicht dem Seewasser: Je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird man.“
Nach der Wende passierten zwei Dinge: Die Menschen nahmen sich den Weg am See. Er wurde zum Symbol für die Freiheit. Sie spazierten, wo es einst nicht mehr weiterging. Der Weg gehörte jetzt ihnen. Die Stadtverordneten beschlossen, am Ufer einen Park für alle anzulegen.
Goldgräberstimmung nach der Wende
Gleichzeitig musste die Frage geklärt werden, was mit den Villen und Grundstücken am See geschehen sollte. Um ein paar kümmerte sich die Jewish Claims Conference; einige wurden nach dem Vermögensgesetz rückübertragen. Andere gingen als Teil der ehemaligen Grenzanlagen der DDR an den Bund, der sie verkaufen konnte, sofern kein öffentliches Interesse daran bestand. Ehemalige Eigentümer oder ihre Erben erhielten Vorzugspreise. Sie kamen so günstig an ein Seegrundstück – in einer Zeit , als in Potsdam die Immobilienpreise in die Höhe schnellten.
Die berüchtigte Goldgräberstimmung. Die Männer mit den Aktenkoffern, die in schwarzen BMWs vor fuhren und für eine halbe Million Mark ein Haus in Wasserlage kauften, das sie mit Gewinn wieder veräußern konnten – und das heute das Fünf- bis Sechsfache wert ist. Etwas später kam der deutsche Geldadel, der aus Berlin nach Potsdam flüchtete, vor dem Stau und dem Smog. Man zog dorthin, wo man unter sich war; wo der Reichtum nicht so auffiel wie in Berlin. Ein ostdeutsches München.
Den Menschen in Potsdam geht es gut. Nirgends ist es so familienfreundlich, kaum irgendwo wird so viel geheiratet wie hier – was auch an den sorgsam restaurierten Schloss- und Parkanlagen liegen mag. Und die Stadt profitiert von ihren wohlhabenden Neubürgern, die sie mitgestalten wollten – allein Hasso Plattner, der SAP-Gründer, hat Millionen Euro für Potsdam gespendet.
Konflikt zwischen Arm und Reich
Aber zurück zum Griebnitzsee. Wer dort nicht kaufte: die Stadt Potsdam. Der war der vom Bund verlangte Grundstückspreis zu hoch. Es verstrich eine historisch einmalige Chance. So sieht es aus heutiger Sicht aus. Vor ziemlich genau dreizehn Jahren, im September 2004, stellten Seeanrainer zum ersten Mal Barrikaden auf den Uferweg. Kurz danach gründeten Anwohner aus der zweiten Reihe die Initiative „Griebnitzsee für alle“.
Wer das Ganze als Konflikt zwischen Arm und Reich sieht, hat also nicht ganz recht. Eher protestierten die Gutbürgerlichen gegen die Reicheren. Was nicht heißt, dass es nicht schmutzig wurde, da landete Hundekot in den Briefkästen der Sperrer, wie sie bald hießen; da standen Parolen auf den Wegen wie „Die fetten Jahre sind vorbei“ und „Volksverräter“.
Die Initiative kämpfte auch für das eigene kleine Glück am See, die Grundstücke in zweiter Reihe wären mehr wert, wenn es einen freien Zugang gäbe. Hinter sich wussten sie die Studenten, Familien und Rentner, die den Weg zum Joggen und Spazieren nutzten; 7000 Unterschriften sammelte die Initiative für den Weg. Auch auf ihrer Seite: der Zeitgeist. Einen See in einem derart besiedelten Gebiet der Öffentlichkeit vor zu enthalten, das passte nicht. Das konnte eine Stadt nicht wollen.
Wer bestimmt, wer Zugang zum See hat?
Wollte sie ja auch nicht. Nur wurde es jetzt kompliziert. Die Stadt entwickelte einen Bebauungsplan – den das Oberverwaltungsgericht 2009 kassierte, als es der Klage von acht Anrainern statt gab. „Es sind Hausgrundstücke, zu denen auch der Uferbereich gehört“, sagte der Richter. Der Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) droht danach erstmals mit Enteignung.
Wer bestimmt, wer Zugang zum See hat? In Potsdam wurde diese Frage zu einer des Geldes. 2010 stellte der Bund 51 Grundstücke zum Verkauf, meistbietend, weil sich ein paar Anwohner zusammentaten und Interesse bekundeten. Am Ende musste Potsdam fast vier Millionen Euro zahlen. Heute plant die Stadt insgesamt dreizehn Millionen für den Uferweg ein, für einen Spazierweg, den sie einst fast geschenkt bekommen hätte. Neunzehn Verfahren laufen im Streit um den Weg. Nachdem die Stadt einen neuen Bebauungsplan vorstellte, kamen im Juni sieben neue Klagen hinzu.
Am Seeufer haben die neuen Mauern derweil Tatsachen geschaffen. Vom S-Bahnhof Griebnitzsee aus führt eine Treppe zum Ufer, hundert Meter nach rechts: ein dornenbewachsener Bauzaun, dahinter wilde Natur. Hundert Meter nach links: eine verrostete Gittertür, abgesperrt. Über die Virchowstraße gelangt man im Westen ans Ufer, flaniert ganz hübsch am See entlang bis zu einer aus dicken Holzscheiten aufgetürmten Barrikade, überwuchert von Blattwerk, hier und da mit Nato-Draht bewehrt. Gen Westen geht es am Ende der Stubenrauchstraße hinunter, wo ein Holzkreuz an die Maueropfer erinnert, ehe der Weg an der Koniferenhecke endet. Das ist er, der Uferpark, siebzehn Jahre, nachdem er erdacht wurde. Ein zerstückeltes Band.
Eigentum ist Eigentum
Man würde gerne mit den Menschen hinter den Barrikaden sprechen. Wie lebt es sich da? Wie wäre es, ein Stückchen abzugeben? Und damit, viele glücklich zu machen? Der Bauunternehmer, der SPD-Stadtverordneter war, bis er sich so mit seiner Fraktion überwarf, dass er zur FDP wechselte, lehnt ein Gespräch ab. Früher hat er mal gesagt: Das alles sei doch so, als besäße man ein Auto, und täglich käme die Allgemeinheit und wolle damit fahren.
Der Mann, dessen Firma gepanzerte Fahrzeuge herstellt, ist verreist. Bei ihm klingt das so: „Eigentum ist Eigentum.“ Das Ehepaar, das am Griebnitzsee eine Vermögensverwaltung betreibt, ruft nicht zurück. Der Bauunternehmer, der gerade an der Nuthe ein ganzes Viertel hochzieht, geht ans Telefon, sagt aber lieber nichts zum Mitschreiben. Also kurz zusammengefasst: Wenn Sie einen Garten hätten, würden Sie dann wollen, dass da jeder durchläuft? Ansonsten könne man seinen Anwalt fragen. Der verkündet gerne mal, dass der Weg auch in zwanzig Jahren nicht gebaut würde.
Der Grund für die allgemeine Zurückhaltung: Seit 2010 läuft ein Mediationsverfahren. Alle haben Stillschweigen vereinbart. Auch die Stadt will keine Fragen beantworten zum Stand der Dinge. Die Zukunft des Weges, der doch für alle sein soll, wird hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Vor ein paar Wochen ist dann doch etwas durchgesickert. Ein Schreiben der Anwälte, die Potsdam vertreten, darin der Vorschlag der Stadt: Die Anrainer ziehen ihre Klagen zurück und räumen der Stadt ein Wegerecht ein. Eine Maximalforderung. Es sieht nicht so aus, als sei der Streit bald beigelegt.
Wer schließlich zurückruft, ist Christoph Partsch, er vertritt seit Jahren Villenbesitzer, hat selbst ein Stück Grün am Ufer, das er mit Bauzaun und Holz gesichert hat. So, wie es ist, sagt er, sei es „sehr schön“ für seine Mandanten. Als der Weg noch offen war, hätten sie mal gezählt, einen Sonnabend lang. Mehrere Tausend Radfahrer seien vorbeigekommen, eine Schnellstraße im eigenen Vorgarten! Das dürfe nicht sein. Partsch spricht auch darüber, dass ein Weg den Wert der Seegrundstücke um ein Drittel mindern würde.
Die Stadt will nicht aufgeben
An der Virchowstraße steht gerade eine Villa zum Verkauf. Das Grundstück dazu liegt zwischen zwei Sperren. „Herrschaftliches Wohnen am Wasser“, verspricht der Makler. Die Villa gehörte dem jüdischen Bankier Jakob Goldschmidt, ehe die Nazis dort das Hauptquartier des Bundes Deutscher Mädel einrichteten. Davon steht nichts in der Verkaufsanzeige. Auch nichts vom Uferstreit. Der Preis für das Anwesen: 5,5 Millionen Euro.