Verkehr

Senatorin Günther: „Ich kann mir gut vorstellen, die Arbeit fortzusetzen“

Die Grünen-Politikerin über Corona, Autobahnbau in Berlin, tote Radfahrer, Parkgebühren – und warum sie für eine zweite Amtszeit zur Verfügung stünde.

Seit Ende 2016 im Amt: Regine Günther (57) ist Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Zuvor war die Politikwissenschaftlerin Generaldirektorin Politik und Klima bei WWF Deutschland. 
Seit Ende 2016 im Amt: Regine Günther (57) ist Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Zuvor war die Politikwissenschaftlerin Generaldirektorin Politik und Klima bei WWF Deutschland. dpa/Jörg Carstensen

Berlin-Das Interview mit Regine Günther findet per Video statt. Die Zeiten haben sich geändert, der Verkehr in Berlin auch. Corona hat das Programm für die Grünen-Politikerin und ihr Team um viele Punkte erweitert. Nun gab Günther bekannt, dass sie Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz bleiben möchte. Nach der Wahl 2021 stünde sie, falls gewünscht, für eine zweite Amtszeit zur Verfügung.

Frau Günther, die zweite Corona-Welle hat Europa im Griff. Wie verändert die Pandemie den Verkehr in Berlin?

Während der ersten Welle im Frühjahr hat die Mobilität der Berlinerinnen und Berliner dramatisch abgenommen. Teilweise sank das Verkehrsaufkommen im Nahverkehr auf zehn bis 20 Prozent, es fuhren auch deutlich weniger Autos auf den Straßen. Die zweite Welle hat wieder einen Rückgang gebracht, der aber diesmal nicht so deutlich ausfällt. Im Moment bewegen wir uns bei Bussen und Bahnen an der 60-Prozent-Marke. Der große Gewinner ist und bleibt der Fahrradverkehr, der in diesem Jahr um fast ein Viertel zugenommen hat. Der Autoverkehr ist in etwa wieder auf dem Stand von vor der Pandemie.

Auch wenn vieles darauf hindeutet, dass Bahnen und Busse keine Hotspots der Ansteckung sind, bleiben viele Menschen aus Angst fern. Wird das dauerhaft so bleiben?

Es gibt etliche Studien, die dem Nahverkehr keine besondere Gefährdung bescheinigen. Das leuchtet auch ein: Es werden Masken getragen, es wird verstärkt gereinigt, es wird wenig gesprochen, es wird viel gelüftet. Wir gehen dennoch vorerst davon aus, dass die BVG, die S-Bahn und der Regionalverkehr auch im kommenden Jahr spürbare Einbußen bei den Fahrgastzahlen verzeichnen werden. Es ist zwar anzunehmen, dass das Aufkommen im Laufe des Jahres 2021 wieder etwas steigt – je nachdem, wie die Ansteckungsraten sinken und die Zahl der geimpften Menschen zunimmt. Doch wann wir wieder an die frühere Normalität anknüpfen können, kann niemand sagen.

In Berlin könnte es weitere Pop-up-Radwege geben

Meiden Sie auch den öffentlichen Verkehr?

Nein, ich fahre vor allem privat relativ viel mit dem Nahverkehr.

Während der ersten Corona-Welle hat Berlin mit der Einrichtung von Pop-up-Radwegen Schlagzeilen gemacht. Warum entstehen während der zweiten Welle keine provisorischen Radfahrstreifen mehr?

Wir prüfen durchaus, wo noch Pop-up-Radwege möglich wären. Noch wichtiger als der Bau weiterer Provisorien ist es aber, vorhandene Pop-up-Radfahrstreifen zu verstetigen – das heißt, in dauerhafte Radwege umzuwandeln. Damit haben wir begonnen, etwa in der Lichtenberger Straße.

Sie setzen sich dafür ein, dass von 2030 an keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor mehr in der Berliner Innenstadt unterwegs sind. Ginge das so einfach?

Einfach geht fast gar nichts in Verkehrsfragen, das ist alles stark reguliert. Daher brauchen wir eine fundierte rechtliche Prüfung: Dürfte das Land Berlin allein entscheiden oder müssten auf Bundesebene zunächst rechtliche Voraussetzungen dafür geschaffen werden? Zweites Thema ist, dass elektrische Fahrzeuge ausreichend verfügbar sein müssen, und zwar zu bezahlbaren Preisen. Dritter Punkt: Es muss genug Ladesäulen geben. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den weiteren Aufbau von Elektro-Ladeinfrastruktur in der nächsten Wahlperiode zur klaren Priorität machen. Die Konzepte dafür sind bereits in Arbeit.

In den vergangenen Jahren hatten sie doch schon die Möglichkeit, mehr Ladesäulen bauen zu lassen. Doch sie wurde nach Meinung vieler Beobachter nur zaghaft genutzt.

Das ist nicht richtig. Berlin steht nach aktuellen Erhebungen deutschlandweit am besten da, was den Ausbau der Ladeinfrastruktur auf öffentlichem Straßenland angeht. Wir erfüllen alle nationalen und EU-Vorgaben und werden dies in den kommenden Jahren forcieren, weil der Bedarf steigen wird. Ladeinfrastruktur ist aber auch nicht nur eine öffentliche Aufgabe, so wenig wie Tankstellen heute staatlich sind. Unternehmen sollten ihren Beschäftigten Ladesäulen anbieten, Eigentümer ihren Mietern. Bereits jetzt wird zu 70 Prozent privat geladen, das ist auch richtig so.

Kommt die City-Maut? „Da werde ich mich nicht festlegen“

Ein Gutachten spricht sich dafür aus, als weitere Finanzierungsquelle des Nahverkehrs eine City-Maut zu erheben. Ich habe den Eindruck, dass eine solche Gebühr für Sie nicht das Mittel der Wahl wäre.  Was würde aus Ihrer Sicht gegen eine Maut sprechen?

Ich betone immer wieder, dass ich mich noch nicht festgelegt habe. Die City-Maut ist ein mögliches Instrument, um dem Nahverkehr mehr Geld für die dringend benötigten Investitionen zur Verfügung zu stellen und zugleich eine verkehrslenkende Wirkung zu erzielen. Mehr als das habe ich bislang nicht gesagt. Solang die Auswertung der Studien nicht beendet und noch Fragen offen sind, werde ich mich nicht festlegen. Wichtig ist für mich auch der Aspekt, wie die Instrumente sozial justiert werden können.

Viele Grüne setzen sich dafür ein, dass keine Autobahnen mehr gebaut werden. Warum lassen Sie zu, dass die Arbeiten an der Verlängerung der A100 von Neukölln zum Treptower Park weitergehen?  

Die rot-rot-grüne Koalition hat sich 2016 auf eine Koalitionsvereinbarung verständigt, an die wir uns halten. Diese Vereinbarung sieht vor, dass der 16. Abschnitt der Autobahn A100 nach Treptow zu Ende gebaut wird, für weitere Abschnitte des Stadtrings allerdings keine Vorbereitungen getroffen werden. Ich halte den 17. Bauabschnitt auch für falsch.

Warum sind Sie dagegen, dass der Stadtring über Treptow hinaus zur Frankfurter Allee und zur Storkower Straße verlängert wird? Der Bund ist dafür.

Wir möchten nicht, dass dieser Teil von Friedrichshain bis Prenzlauer Berg von einer Autobahn durchschnitten wird. Weltweit entwerfen die großen Städte neue Konzepte, wie urbane Räume mit mehr Aufenthaltsqualität geschaffen werden können. Die Bürgerinnen und Bürger fordern zu Recht, dass Luftverschmutzung und Lärm in der Stadt zurückgehen. Dazu passt es nicht, mitten in einem Wohngebiet eine Autobahn zu bauen. Das wäre eine sehr antiquierte Sichtweise auf Stadtentwicklung.

Die Friedrichstraße könnte dauerhaft Fußgängern und Radfahrern gehören

Seit Langem versuchen Sie, eine Erhöhung der Parkgebühren durchzusetzen. Doch die Innenverwaltung lehnte das ab, weil auch im Schichtdienst arbeitende Polizisten mehr zahlen müssten. Wann wird der Senat entscheiden?

Der Senat hat bereits entschieden. Er hat einen Luftreinhalteplan beschlossen, der vorsieht, die Kurzzeit-Parkgebühren zu erhöhen. Das sorgt für weniger Parksuchverkehr und dadurch für bessere Luft. Jetzt geht es darum, diesen Beschluss umzusetzen und eine neue Parkgebührenordnung zu verabschieden. Dazu haben wir eine Vorlage eingereicht, über die bisher keine Einigkeit erzielt werden konnte. Ich hoffe, dass wir diese Blockade bald überwinden. Und ich bin durchaus offen für Vorschläge, wie die existierenden Ausnahmeregelungen zielgerichtet genutzt werden können.

Ein anderes Projekt ist, den Tarif des Bewohnerparkausweises anzuheben. Derzeit kostet die Vignette umgerechnet 10,20 Euro pro Jahr. Würden Sie eine schrittweise Erhöhung ins Auge fassen? Nach allem, was ich so höre, sind bis zu 180 Euro im Gespräch.

Wir werden – wie vorgeschrieben – das Parlament über diese neue gesetzliche Regelung informieren. Auf dieser Grundlage müssen dann die Fraktionen entscheiden, ob sie hier selbst tätig werden oder ob eine Gesetzesvorlage durch die Senatsverwaltung erarbeitet werden soll. In diesem Rahmen werden wir dann konkrete Beträge diskutieren. Wir wollen dem Parken im knappen öffentlichen Raum einen angemesseneren Preis geben. Damit sorgen wir für mehr Flächengerechtigkeit und schaffen einen Anreiz zum Umstieg auf stadtverträgliche Mobilität.

Der Verkehrsversuch autofreie Friedrichstraße soll bis Ende Oktober 2021 verlängert werden. Ist es möglich, dass die Straße dauerhaft für Autos gesperrt bleibt?

Wegen Corona sind wir in einer besonderen Situation. Was Verkehrsaufkommen und Einkaufsaktivitäten angeht, sind die Zahlen mit früheren Jahren kaum vergleichbar. Zudem konnten wir 2020 erst im Herbst starten – es fehlt uns also ein ganzer Sommer. Deshalb wäre es richtig, die Sperrung bis Ende Oktober 2021 zu verlängern, damit der Versuch hinreichend belastbare Daten liefert und valide ausgewertet werden kann. Das ist mein Vorschlag – und den werde ich jetzt mit den Anrainern und dem Bezirk diskutieren.

Noch einmal: Könnte es sein, dass die jetzige Verkehrsregelung dauerhaft bleibt?

Es handelt sich um einen Versuch, und wir schauen, wie er sich entwickelt. Bislang wird er insgesamt sehr gut angenommen, wir erhalten überwiegend positive Rückmeldungen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Deshalb sind und bleiben wir im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, dem Bezirk und den Anrainern.

Die BVG bereitet eine Ausschreibung vor, die Berlin mehr flexible digitale Verkehrsangebote bescheren soll: Sammeltaxis, Rufbusse, barrierefreie Angebote für mobilitätseingeschränkte Menschen. Was versprechen Sie sich davon?

Die Berliner Verkehrsbetriebe erfüllen hier einen Teil des Verkehrsvertrags, den das Land mit der BVG verhandelt hat und in Kürze abschließen wird. Die Pläne sind also im Grundsatz abgestimmt. Klar ist, dass gerade am Stadtrand an manchen Orten Zubringer zur S-Bahn und U-Bahn fehlen. Wenn wir wollen, dass mehr Menschen als jetzt den Nahverkehr nutzen, müssen wir auch hier weitere Angebote schaffen. Der Nahverkehr soll überall so attraktiv sein, dass der Umstieg vom Auto noch leichter fällt.

Das ohnehin schon gebeutelte Taxigewerbe fürchtet weitere Konkurrenz. Zu Recht?

Es ist erklärter Wille der Koalition und sehr explizit auch meiner Senatsverwaltung, dass mit öffentlichen Geldern keine Konkurrenz zum Taxigewerbe finanziert werden soll. Es geht beim digital gesteuerten Rufbus-System nicht darum, Menschen wie mit dem Taxi exklusiv von Haus zu Haus durch die Stadt zu fahren. Unser Fokus liegt darauf, dass Fahrgäste schnell und zuverlässig zur nächsten Schnellbahnstation gelangen – und dies möglichst gemeinsam mit anderen.

Initiativen für mehr Fahrradsicherheit scheiterten im Bundesrat

In Berlin sind in diesem Jahr schon 17 Radfahrer im Straßenverkehr getötet worden. Warum liegt unsere Stadt im Gegensatz zu Skandinavien auf dem Weg zur Vision Zero so weit zurück?

Das ist bitter und nicht akzeptabel, da gibt es nichts zu beschönigen. Wir haben uns mit aller Kraft dafür eingesetzt, dass die Unfallzahlen sinken – mit einer aufgestockten Unfallkommission, mit Kreuzungsumbauten, mit verbesserter Radinfrastruktur an inzwischen vielen Stellen, mit etlichen Initiativen im Bundesrat für Entschleunigung, für Sicherheitszonen in der City. Der Stadtverkehr muss langsamer werden, der fahrradfreundliche Umbau der Infrastruktur muss vorankommen, dazu zählen insbesondere auch getrennt signalisierte Ampeln. Sehr wichtig ist zudem, dass der Autoverkehr schärfer durch die Polizei kontrolliert wird. Dies ist die effektivste Maßnahme, die kurzfristig zur Verfügung steht.

Rechtsabbiegende Lastwagen sind weiterhin eine große Gefahr für Radfahrer. Daran hat sich während Ihrer bisherigen Amtszeit nichts geändert.

Das ist eine Bundesaufgabe. Ich habe deshalb in meiner Amtszeit mehrere Bundesratsinitiativen zum Thema gestartet, ich habe Bundesverkehrsminister Scheuer Vorschläge zur Änderung der Straßenverkehrsordnung unterbreitet. Wir haben zudem die Optionen auf Berliner Ebene sondiert und statten zum Beispiel alle Landesflotten, ob BVG, BSR oder andere, mit Abbiegeassistenten aus. Im Bundesrat waren wir bisher nicht erfolgreich, aber wir bleiben an diesem wichtigen Thema dran.

Die Corona-Krise hat gezeigt, dass für immer mehr Berliner das private Auto das Verkehrsmittel der Wahl ist. Haben Sie keine Angst davor, dass die Grünen bei der Wahl im September 2021 für ihre autoskeptische Politik abgestraft werden?

Ganz im Gegenteil. In Berlin hat weniger als die Hälfte der Haushalte ein Auto. Unsere Politik, den Umweltverbund aus Nahverkehr, Rad- und Fußverkehr zu stärken, kommt also vielen Bürgerinnen und Bürgern zugute. Inzwischen werden drei Viertel aller Wege in diesem Umweltverbund zurückgelegt. Unsere Politik nützt dabei vor allem jenen, die nicht so gut verdienen und sich deshalb kein Auto leisten können – hier geht es für mich auch um soziale Gerechtigkeit. Weltweit sagen uns Stadt- und Verkehrsplaner, dass die Städte keine weiteren Autos mehr verkraften können. Städte verlieren immer mehr an Lebensqualität, wenn Lärm und Abgase zunehmen, wenn Fußgängern und Radfahrenden der Platz fehlt, wenn die Unfallgefahr steigt. Ich bin überzeugt, dass sich sehr viele Berlinerinnen und Berliner eine menschenfreundlichere Stadtgestaltung wünschen.

Langer Atem und Nehmerqualitäten

Würden Sie für eine weitere Amtszeit als Senatorin zur Verfügung stehen?

Dazu haben zunächst einmal die Wählerinnen und Wähler das Wort. Im zweiten Schritt würde dann meine Partei entscheiden, ob sie mir erneut ihr Vertrauen aussprechen möchte. Was mich anbelangt, kann ich aber sagen, dass ich mein Amt als Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz mit sehr viel Freude an der Sache ausfülle. Mir war dabei von Anfang klar, dass gerade der Verkehrsbereich ein konfliktreiches Politikfeld ist und es kein Spaziergang wird, notwendige Veränderungen und grundlegende Strategiewechsel anzustoßen. Doch wir haben sehr viel erreicht, und ich kann mir gut vorstellen, diese Arbeit fortzusetzen. Aber wie gesagt: Zunächst entscheiden andere.

Was für Charakterzüge braucht man als Verkehrssenatorin in Berlin?

Nach meiner Erfahrung sind ein starker Gestaltungswille, ein langer Atem und auch Nehmerqualitäten wichtig. Außerdem darf man Konflikte nicht scheuen und braucht eine strategische Vision, wenn man in unserem sehr schönen, aber nicht immer pflegeleichten Berlin etwas erreichen will.