Erdbeben

Pankower Bäcker sammelt Spenden für seine Heimat: „Wir fühlen uns so hilflos“

Seit der Erdbebenkatastrophe in der Türkei lassen die Aslans die Heizung aus, schlafen kaum und essen wenig. Wie sie ihre Bäckerei als Spendenplattform nutzen.

Anastasia (31) und Mehmet (28) Aslan sammeln Spenden für die Erdbebenopfer in Gaziantep.
Anastasia (31) und Mehmet (28) Aslan sammeln Spenden für die Erdbebenopfer in Gaziantep.Sabine Gudath

Anastasia Aslan wendet sich ab, weil ihr die Tränen kommen. Wenn sie und ihr Mann die Familie über Videotelefonie sehen, draußen, ohne essen, weinen sie manchmal. Dann muss die 31-Jährige ihrem sechsjährigen Sohn erklären, was genau ein Erdbeben ist und warum sie das so aufwühle. Als sie fertig ist, stützt sie beide Hände auf die Theke in dem kleinen Geschäft in Pankow und starrt auf die Croissants in der Auslage, dann kneift sie die Augen zusammen.

Anastasia Aslan selbst ist in Kasachstan geboren, die Familie ihres Mannes lebt in Gaziantep in der Türkei, mitten in dem Erdbebengebiet, ein Gebiet, so groß wie Bayern und Baden-Württemberg. Die Zahl der Toten liegt derzeit bei über 20.000 und dürfte weiter steigen. Die Erde bebte überwiegend im kurdischen Gebiet der Türkei und Syriens. Das Epizentrum des ersten Bebens mit einer Stärke von etwa 7,8 lag nach ersten Erkenntnissen in der Provinz Kahramanmaras nahe der syrischen Grenze. Ein weiteres Beben der Stärke 6,6 sei kurz darauf in der Provinz Gaziantep gemessen worden. Es gab mehr als 200 Nachbeben, wie die Berliner Zeitung berichtete.

Mehmet Aslan steht neben einem Stapel aus Kartons und gefüllten Säcken. „Wir versuchen unser Bestes, um zu helfen“, sagt der 28-Jährige. Besonders dringend benötigen die Menschen im Krisengebiet Windeln, Fläschchen, Hygieneartikel und Medizin. Flyer mit einem QR-Code hängen am Eingang und an der Vitrine und weisen auf das Spendenkonto hin, das die nah gelegene Kirche eigens für sie eingerichtet hat. Ein Freund von Aslan verteilt die Spenden vor Ort. Auf Instagram postet er Fotos und Videos von der Aktion, um zu zeigen, was mit den Spenden passiert. „Jeder Cent kommt dort an, wo er gebraucht wird“, sagt Aslan. „Gestern haben sie Essen für 18.000 Leute zubereitet.“

„Wir können unser Essen nicht genießen“

Erst vor einer Woche ist Mehmet Aslan von seinem Besuch aus der Türkei zurückgekommen. Kurz vor der Katastrophe. „Hilflos“, Anastasia Aslan beschreibt fast flüsternd, wie sich die kleine Familie seitdem fühlt. Der junge Vater nickt. „Es ist wirklich schwer“, sagt er. „Dieses Gefühl wünsche ich niemandem.“ Nach dem ersten Beben hätten sie „kein Auge zugetan“, trotzdem mussten die beiden den Bäckereibetrieb am Laufen halten. „Wir können unser Essen nicht mehr genießen“, sagt Anastasia Aslan und weint wieder. „Die Heizung lassen wir aus, um wenigstens ein bisschen mitzufühlen.“ Die Familie ihres Mannes sei wie ihre eigene geworden.

Auch Sachspenden sind in der Bäckerei willkommen.
Auch Sachspenden sind in der Bäckerei willkommen.Sabine Gudath

Die Häuser der Verwandten stehen alle noch. Risse ziehen sich über die Wände. Die Familie ist groß, Mehmet Aslans Handy vibrierte in den letzten Tagen ständig. Stündlich bebte die Erde von neuem und die Familienmitglieder wollten wissen, ob es allen gut geht. Bei jedem Nachbeben hofften die Großeltern, dass die Decke nicht einstürzt, erzählt Mehmet Aslan, während die anderen nach draußen rannten. Beide haben beim Gehen Schwierigkeiten. Momentan informiert er sich über die Möglichkeit, ein Visum für seine Großeltern zu beantragen, um sie nach Berlin zu holen. Das dauere aber lange und sei in den letzten Jahren schwieriger geworden.

Anastasia Aslan beschreibt die Lage vor Ort: „In den ersten Stock traut sich niemand mehr und Menschen übernachten in Autos“, sagt sie. Die Heizung funktioniere nicht, auch in Gaziantep fallen die Temperaturen derzeit nachts unter null Grad Celsius. „In der Familie sind viele krank geworden“, sagt Aslan. Momentan gebe es ein Verbot, das Wasser aus der Leitung zu trinken, und die Läden wurden geplündert und waren bis vor kurzem geschlossen, sagt Aslan. Nun heben die Händler die Preise an, ein Brot koste das Doppelte. Die Preise seien ohnehin schon vorher wegen der Inflation gestiegen.

„Warum lässt Erdogan seine kurdischen Landsleute im Stich?“

Es duftet nach Kaffee, immer wieder kommen Kunden während des Gesprächs herein, die Kasse klickt, das Geschirr klappert. Die Eheleute wechseln sich ab, ein Blick genügt. Einmal sprechen sie kurz türkisch miteinander, Anastasia Aslan versteht auch ein wenig kurdisch, sagt sie. Eine Kundin fragt nach dem Spendenaufruf, Anastasia Aslan übernimmt das Reden und erklärt die Situation in der Türkei noch einmal. Mehmet Aslan hält sich eher zurück. Der Berliner Zeitung gegenüber will er aber auch gern selbst sprechen.

Verwandte von Bekannten in Adiyaman seien gestorben. „Diese Stadt ist wirklich ausgelöscht“, sagt Mehmet Aslan. „Ein, zwei Bagger reichen da nicht. Tausende Menschen sind verschüttet.“ Vor allem die Älteren schafften es nicht, länger draußen zu überleben. „Wir sind keine Hilfsorganisation“, sagt Mehmet Aslan. „Aber wenn genug Spenden eingehen, können wir in Zukunft vielleicht auch in anderen Städten helfen.“

Es geht den Aslans nicht nur um ihre Familie und Freunde in der Türkei, sagen sie. Auch schon vor dem Erdbeben spendeten sie regelmäßig Backwaren an Obdachlose. Den Laden haben sie kurz vor Corona eröffnet, sagt Anastasia Aslan, es seien schwere Zeiten.

Sie sagt, dass die türkische Regierung keine Hubschrauber und Boote bereitstelle, um die Menschen in Sicherheit zu bringen. Sie hebt die Schultern, Falten bilden sich an ihrem Kinn. „Warum werden die kurdischen Landsleute so im Stich gelassen?“, fragt sie. „Das ist die zweite Sache, die uns beschäftigt.“

Präsident Recep Tayyip Erdogan befindet sich im Wahlkampf, im Mai sind Wahlen in der Türkei, wenn sie denn stattfinden. Erdogan ist seit 20 Jahren im Amt, aber es könnte sein, dass auf das echte Erdbeben ein politisches Beben folgt. Die Kritik an seinem Krisenmanagement wird immer lauter, auch die Prävention soll zu kurz gekommen sein. Kurz nach dem Erdbeben hat Erdogan offenbar weiterhin kurdische Gebiete in Nordsyrien bombardiert. In Berlin leben viele Kurden, für sie fühlt sich das alles ganz nah an.