Montréal feiert einmal im Jahr, Ende Februar, das Festival of Lights. Das ist so ähnlich wie in Berlin, nur noch viel kälter und mit höheren Schneebergen an den Rändern der Straßen. In der Innenstadt werden mehrere Gebäude von bunten Lichtern angestrahlt und mit zum Teil interaktiven Kunstinstallationen versehen. Es gibt Rutschen, eine sehr bunte Eislaufbahn und kleine Stände mit Biberschwänzen (einem frittierten kanadischen Snack) und Bier.
Wer sich dort anstellt, um ein Bier zu kaufen, wundert sich zweimal: zuerst über den Preis für eine kleine Dose (8 Dollar) und dann über die 18 Prozent Tip, die der Mann am Tresen für sich reklamiert. Ich zahle mit Karte, und die 18 Prozent sind voreingestellt. Ich soll also einen Dollar und 44 Cent extra dafür zahlen, dass sich dieser Mann umgedreht und eine Bierdose vor sich auf den Tisch gestellt hat? Er hat noch nicht einmal gelächelt.
Natürlich weiß ich, dass Tip, also Trinkgeld, eine andere Sache ist in Nordamerika. Es macht einen großen Teil des eigentlichen Gehalts aus für Menschen in der Service-Industrie. Aber was derzeit in Kanada passiert, stellt selbst die immer höflichen Kanadier auf die Probe. Das zumindest hat mir so ein Kanadier in Montréal erklärt, der auch mit steigenden Mieten und Preisen im Supermarkt zu kämpfen hat.
Seit der Pandemie taucht immer wieder ein neuer Begriff im kanadischen Alltag auf: Tipflation. Wenn bis vor kurzem 15 Prozent Trinkgeld normal gewesen sind, sind es jetzt 18 bis 20 Prozent. In manchen Gegenden gilt 20 inzwischen als die neue Untergrenze. Das heißt, wer weniger Trinkgeld gibt, will damit ein Zeichen setzen, dass er oder sie unzufrieden war mit dem Service.
Doch es ist nicht allein die Höhe des Trinkgeldes, die zum Problem wird. Plötzlich verlangen Branchen und Berufe nach Trinkgeld, wo es bis vor wenigen Monaten nicht üblich war.
So haben wir einen Ausflug in einen Park unternommen, in dem man Elche füttern. Wir fahren also mit dem Auto durch Wälder und links und rechts stellen sich Elche an das Auto, damit wir sie mit Karotten füttern. Diese Karotten wiederum kaufen wir am Eingang des Parks. Und als wäre es selbstverständlich, werden wir beim Bezahlen gefragt: 15 Prozent, 18 Prozent, 20 Prozent?
Wir haben uns verschämt für 15 Prozent entschieden. Zwei Tage später haben wir einen Escape-Room ausprobiert, eine kanadische Winterhütte, in der vier Jugendliche eingesperrt sind, die wir befreien müssen. Wir haben es nur beinahe geschafft. Aber 18 Prozent Trinkgeld wurden trotzdem fällig.
Das lässt sich auch in Zahlen ausdrücken, die das unabhängige Angus Reid Institute zusammen getragen hat: Im Jahr 2016 gaben 43 Prozent der Kanadier an, beim letzten Essen in einem Restaurant weniger als 15 Prozent Trinkgeld gegeben zu haben. Im Jahr 2023 sagen das nur noch etwa halb so viele (23 Prozent). Unterdessen gibt jeder Fünfte (21 Prozent) an, beim letzten Essen ein Trinkgeld von 20 Prozent oder mehr gegeben zu haben, mehr als doppelt so viel (8 Prozent) wie im Jahr 2016.


