Prozess gegen KZ-Wachmann

KZ-Überlebender aus Israel: „Wir waren keine Menschen mehr für sie“

Im Prozess gegen einen 101-jährigen einstigen Wachmann des KZ Sachsenhausen sagt Arie Waxman aus. Er überlebte als Einziger seiner Familie den Holocaust.

Der 91-jährige Arie Waxman überlebte als Kind Auschwitz, Sachsenhausen und Mauthausen.
Der 91-jährige Arie Waxman überlebte als Kind Auschwitz, Sachsenhausen und Mauthausen.Berliner Zeitung/Katrin Bischoff

Der Mann, der auf zwei Bildschirmen zu sehen ist, trägt Kopfhörer. Über das dunkelblaue Hemd hat er sich eine graue Strickjacke gezogen. Arie Waxman sitzt Tausende Kilometer von der zu einem Gerichtssaal umfunktionierten Sporthalle in Brandenburg/Havel entfernt vor einer Kamera. In einem Kibbuz in Israel. Manchmal lächelt er, wenn der Dolmetscher die Fragen von Udo Lechtermann, dem Vorsitzenden Richter des Landgerichts Neuruppin, ins Hebräische übersetzt. Manchmal stockt er, wenn er redet, so, als würde ihn die Erinnerung wieder einholen.

Arie Waxman ist 91 Jahre alt, er hat mehrere Konzentrationslager überlebt: Auschwitz, Sachsenhausen, Mauthausen. Er ist der Einzige aus seiner Familie, der den Gräueltaten der SS entkam. Nun ist er Nebenkläger im Prozess gegen Josef S., den 101 Jahre alten Angeklagten, der Teil der mörderischen Maschinerie im KZ Sachsenhausen gewesen sein soll. Die Anklage wirft Josef S. vor, von 1942 bis 1945 als SS-Wachmann in Sachsenhausen Beihilfe zum Mord an Tausenden Häftlingen geleistet zu haben – zu einer Zeit also, als Arie Waxman dort Häftling war. Josef S. bestreitet bisher die Vorwürfe.

Arie Waxman erzählt in seiner Videovernehmung, dass er in einer kleinen polnischen Stadt bei Lodz aufwuchs. Seine Mutter starb bei einem der ersten Bombardements. 1943 sei er mit seinem Vater ins Ghetto Lodz gekommen, von dort von den Deutschen in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt worden. „Es ist ein Wunder, das ich in meinem Alter Auschwitz überlebt habe“, sagt Waxman nun. Denn Kinder in seinem Alter, er war noch keine 14, seien sofort getötet worden. Er sei im Lager einfach hinter seinem Vater hergelaufen. „Es war Glück.“

Kurz darauf wurden in Auschwitz junge, starke Männer gesucht. „Mein Vater sagte: Geh’ hin, vielleicht ist es deine Rettung“, erinnert sich Waxman. Die jungen Männer sollten das Maurerhandwerk erlernen, um später Deutschland wiederaufzubauen, so sagt es der Zeuge.

Waxman wurde genommen, 1944 von Auschwitz nach Lieberose deportiert. In dem Nebenlager des KZ Sachsenhausen musste er Zwangsarbeit als Maurer leisten. „Die Arbeit war hart“, erinnert er sich. Und es habe nie genug zu essen gegeben. Er sei an Mumps erkrankt, doch er habe weitergearbeitet. Wenn er sich krankgemeldet hätte, wäre es sein Todesurteil gewesen. Waxman erinnert sich, dass sie einmal nachts zur Strafe nackt in der Kälte ausharren mussten. Wegen eines Streichs, den sie trotz der harten Bedingungen den Wachleuten gespielt hätten. „Wir waren Kinder.“

Im Februar 1945 wurden die Lagerinsassen auf den Todesmarsch geschickt – nach Sachsenhausen. Manche seien ohne Kleider gelaufen. „Schuhe hatten wir nicht“, berichtet der Zeuge. Und kaum zu essen. Auf nassen Äckern mussten die Gefangenen übernachten. Viele Häftlinge wurden krank. Die Menschen, die zu schwach gewesen seien, um weiterzumarschieren, seien von den Wachleuten gnadenlos erschossen worden, sagt Waxman.

Häftlinge klauten den Hunden das Fressen

Im KZ Sachsenhausen musste er am Hundezwinger arbeiten. Er habe nur überlebt, weil er den Hunden das Fressen geklaut habe. Was geschehen wäre, wenn man ihn erwischt hätte, will der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann wissen. Man wäre erschossen oder furchtbar verprügelt worden, so die Antwort. Das habe im Ermessen der Wachleute gelegen. „Sie müssen verstehen“, sagt Waxman, „wir waren keine Menschen mehr für sie.“ Jeder Wachmann habe mit einem Häftling machen können, was er wollte.

Als die Front immer näher rückte, wurde Waxman mit vielen anderen Häftlingen in das KZ Mauthausen verschleppt. Dort sei es wirklich die Hölle gewesen, berichtet der Zeuge. Er sei krank geworden, musste auf die Krankenstation. Viele dort starben. Als das Lager durch die amerikanische Armee befreit wurde, konnte Arie Waxman nicht mehr stehen oder laufen, sondern nur noch auf allen Vieren kriechen. Er sei kurz vor dem Verhungern gewesen, sagt er. In einem Militärkrankenhaus wurde er gerettet.

Als Richter Lechtermann den Zeugen fragt, wie lange er im Konzentrationslager Sachsenhausen gewesen sei, denkt Waxman kurz nach. „Wer von uns hat schon die Tage gezählt. Wir waren dort, als würden wir nicht existieren. Alles, was zählte, war ein Stück Brot“, antwortet er dann.

Alle Familienmitglieder wurden ermordet

Nach dem Krieg suchte Arie Waxman nach seinen jüdischen Verwandten. „Haben Sie jemanden gefunden?“, will der Richter wissen. „Nein“, antwortet der alte Herr vor der Kamera. Sein Vater sei in Auschwitz ermordet worden, auch sein Bruder habe nicht überlebt. Niemand.

1946 ging Arie Waxman nach Israel, wurde erst Soldat, später Polizist. Dort sei ein Verein gegründet worden, erzählt er. „Die Kinder von Sachsenhausen“, habe er sich genannt. In einem Buch seien die Schicksale der Überlebenden festgehalten worden. Den Verein gebe es nicht mehr, sagt der Zeuge. Weil es niemanden außer ihm gebe, der noch lebe. Deswegen verbinde er mit der Aussage vor Gericht auch einen Appell. „Meine Botschaft lautet, die jungen Menschen zu erziehen, damit wir eine bessere Welt haben.“ Noch immer gebe es böse Menschen auf der Welt.

Als der Richter Arie Waxman nach rund zwei Stunden dafür dankt, dass er es auf sich genommen habe, sich an die schreckliche Zeit erinnern zu müssen, nickt der Zeuge kurz. Er habe das für die Menschheit getan, sagt er und lächelt.