Die Nachrichten klingen verzweifelt oder hoffnungslos, oft ist außerdem die Sprache ziemlich roh. Ein Junge schreibt zum Beispiel: „Ich bekomme das scheiss Homeschooling nicht hin.“ Er könne seit Tagen nicht schlafen und komme nicht aus dem Bett. Er schreibt: „Fühle mich einfach wie ein krasser Loser, der nichts hinbekommt.“
Solche oder so ähnliche Nachrichten haben während der Pandemie Tausende junge Menschen an die Nummer eines Berliner Start-ups geschickt, den „Krisenchat“. Einer der Gründer ist der 21-jährige Kai Lanz. „Im ersten Corona-Lockdown haben wir gemerkt, dass alle Unterstützungssysteme für junge Menschen weggefallen sind“, sagt er. „Gerade für diese Zielgruppe braucht es ein zeitgemäßes Angebot, das 24/7 via Chat erreichbar ist.“ Dies sei für ihn und seine zwei Freunde Julius de Gruyter und Jan Wilhelm der Impuls gewesen, den „Krisenchat“ 2020 ins Leben zu rufen.
Schon vorher hatten die drei jungen Berliner ein ähnliches Konzept entwickelt, damals noch an ihrer Schule, dem Canisius-Kolleg in Tiergarten. Mit „Exclamo“ (lat. ich schreie) boten sie Schulen eine Plattform, auf der anonym Mobbingvorfälle gemeldet werden konnten. Über „Krisenchat“ können sich die Kinder und Jugendlichen jetzt direkt bei ihnen melden, wenn sie Hilfe brauchen. Und die Nachfrage ist riesig. Inzwischen wurden über „Krisenchat“ nach eigenen Angaben rund 80.000 Beratungen durchgeführt und über dreieinhalb Millionen Nachrichten ausgetauscht.
Am öftesten gehe es bei den Jugendlichen, die sich per Chat melden, um Depressionen, um Selbstverletzungen bis hin zu suizidalen Absichten, so Gründer Lanz. Aber auch familiäre Konflikte, Liebeskummer, Einsamkeit und Mobbing seien prominente Themen, die junge Menschen belasteten. Rund 350 Ehrenamtliche arbeiten derzeit für das Unternehmen. Alle haben eine psychologische Ausbildung und bereits Beratungserfahrung. Sie werden unterstützt durch ein Fachteam, das sich um besonders schwere Krisen kümmert und auch die Arbeit der Ehrenamtlichen überprüft.
Für Kai Lanz soll der „Krisenchat“ keine Alternative zur Therapie sein, „sondern nur ein ergänzendes Angebot in der Versorgungslandschaft“. Dass sich so viele junge Menschen bei ihnen meldeten, führt der Jungunternehmer vor allem darauf zurück, dass es Angebote wie diese bislang zu wenig gegeben habe. Doch mit Sicherheit spielt auch eine Rolle, dass Therapieplätze in der Stadt schwer und meist nur mit langen Wartezeiten zu bekommen sind.
Im Durchschnitt vergehen 142 Tage zwischen einem Erstgespräch und dem Beginn der Therapie, das hat die Bundespsychotherapeutenkammer errechnet. „Unzumutbar“, findet diese Zustände der Präsident der Kammer, Dietrich Munz. „Das ist einfach viel zu lang, es wurde schließlich schon die Behandlungsnotwendigkeit festgestellt“, so Munz. Ein Problem sei dies gerade bei Kindern und Jugendlichen, denn solch lange Wartezeiten könnten auch von einer Therapie abschrecken. Gefährlich insbesondere, „da in jungen Jahren unbehandelte psychische Erkrankungen und Auffälligkeiten häufig später zu weiteren Problematiken führen können“, sagt Munz.
Multiple Krisen belasten junge Menschen enorm
Auch Kai Lanz von „Krisenchat“ findet: „Es besteht ein hoher Bedarf an psychologischer Betreuung, für den bei Weitem nicht genug Angebot da ist.“ Häufig meldeten sich Jugendliche bei ihnen, die bereits auf einen Therapieplatz warteten, aber die Situation nicht mehr aushielten. Doch könne Krisenchat keine Überbrückungsleistung für einen so langen Zeitraum bieten, sagt Lanz. „Das ist ein gesellschaftliches Problem.“ Gerade in Bezug auf nicht abnehmende Stresssituationen, wie die Corona-Pandemie, die für Kinder und Jugendliche nun schon drei Jahre andauere.
„Das Zusammenwirken von Corona-, Ukraine- und Klimakrise führt besonders bei Kindern und Jugendlichen zu einer massiv gestiegenen Nachfrage an Therapieplätzen“, sagt Dietrich Munz. Die multiple Krisenlage verstärkt also noch einmal zusätzlich das Problem. Die Nachfrage an Therapieplätzen für Kinder sei 50 Prozent größer als noch vor der Pandemie, so Munz. Auch er sehe hier deutlichen politischen Handlungsbedarf, doch insbesondere die gesetzlichen Krankenkassen würden bisher Vorschläge zur besseren Versorgung blockieren.
„Jungen Menschen fehlt es häufig an Fürsprechern, die ihre Interessen öffentlich vertreten“, sagt Kai Lanz. Psychische Krankheiten – das sei auch immer ein schwieriges Thema. Es brauche weiterhin öffentliche Wahrnehmung, um Jugendlichen ausreichend Hilfe zukommen lassen zu können. „Krisenchat“ kann hierzu nur einen Beitrag leisten.




