Der Art Shelter an der Leibnizstraße in Berlin-Charlottenburg ist ein besonderer Ort: Ukrainische Künstler greifen seit dem Frühjahr zwischen pink angestrichenen Wänden zu Pinsel, Meißel oder Fotoapparat. 18 Fotografen, Maler oder Designer haben in der einst als Edelbordell genutzten Etagenwohnung dank einer Berliner Initiative ein Refugium gefunden. Sonya Golubewa ist Multimedia-Künstlerin. Sie träumt seit dem Beginn der Offensive der ukrainischen Armee in der Region Charkiw im Nordosten ihres Heimatlandes von einem Kunstprojekt über die Soldaten der ukrainischen Armee. „Ich würde gerne zeigen, dass hinter jeder Uniform ein Mensch steckt“, sagt die 24-jährige Künstlerin.
Ich würde gerne zeigen, dass hinter jeder Uniform ein Mensch steckt.
Sie sagt, dass die Ukraine ihren Frauen und Männern an der Front alles verdanke. Das gelte gerade jetzt, nachdem die ukrainische Armee in wenigen Tagen nach eigenen Angaben 6000 Quadratkilometer an von den Russen besetztem Territorium in einer Gegenoffensive befreit hat. „Es gibt uns so viel Mut“, sagt die Künstlerin.
Geflüchtete diskutieren über Rückkehr
Die Künstler in der Wohngemeinschaft diskutierten, ob jetzt der Zeitpunkt für eine Rückkehr in die Ukraine sei. Golubewa ist skeptisch. „In den befreiten Gebieten ist alles zerstört. Es gibt auch keinen Strom. Dahin sollte jetzt niemand zurück“, meint die Künstlerin.
In den befreiten Gebieten ist alles zerstört.
Sie selbst stammt aus der Hafenstadt Odessa. Sie liegt nur einige Dutzend Kilometer entfernt von der südlichen Front in der Ukraine. Die ukrainische Armee verzeichnet auch hier Geländegewinne. Der Vormarsch gestaltet sich allerdings zäher als im Nordosten. Raketen schlagen immer wieder in Odessa ein. Sicherheit gebe es auch dort keine, meint Golubewa.

Überall droht Luftalarm
Die Künstlerin hat im Sommer ihren Ehemann in der Stadt Uschhorod an der Grenze zu Ungarn besucht. „Wir haben uns dort so nah an der Grenze sicher gefühlt. Aber es gab immer wieder Luftalarm“, sagt sie. Sie habe erst in Berlin aufgeatmet.
Die Ukrainerin fürchtet außerdem eine Vergeltung der Russen. „Mich haben die Bilder gerührt von den Zivilisten in den befreiten Gebieten, die unsere Soldaten mit Blumen begrüßt haben. Genau das haben die Russen ja von den Ukrainern erwartet, vor dem Krieg. Sie sehen jetzt, was für eine dumme Idee das war“, sagt sie. Die Künstlerin fürchtet als Reaktion nun verstärkte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, um die Moral im Rücken der ukrainischen Armee zu brechen.
Viele Soldaten sind gefallen
Ein Glas Sekt auf den Sieg will Eva Yakubowska erst trinken, wenn das gesamte Territorium der Ukraine befreit ist und auch jene Ukrainer wieder in der Heimat sind, die Russland auf sein Territorium gelenkt hat. Trotz des Sieges bei Charkiw sei jetzt nicht die Zeit für Jubelfeiern, meint die Aktivistin des ukrainischen Vereins Vitsche. „Ich denke an jedes Leben, das wir verloren haben, um die Gebiete zu befreien“, meint die 28-jährige Ukrainerin.
Ich denke an jedes Leben, das wir verloren haben.
Yakubowska lebt seit vier Jahren in Berlin. Sie ist im Vorstand von Vitsche. Ihr Verein trommelt auf Mahnwachen seit Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar für die Unterstützung der Ukraine. Es gelte auch weiterhin, dass Leben gerettet werden könnte, wenn die westlichen Staaten mehr und schwerere Waffen lieferten, meint die Aktivistin. „Wir sehen die vielen Versprechen, die nicht umgesetzt werden“, kritisiert Yakubowska.
Aktivistin fürchtet ein zweites Butscha
Die Aktivistin fürchtet, dass sich ähnlich wie nach der Rückeroberung der Städte Butscha und Irpin nördlich der Hauptstadt Kiew Grauenvolles offenbaren werde in den befreiten Gebieten. Die ukrainische Armee hat nach einigen Angaben bei ihrem Vormarsch Leichen mit Folterspuren geborgen. Laut Aussagen der ukrainischen Polizei ist die Armee in der befreiten Stadt Balaklija auf ein Foltergefängnis der Besatzungstruppen gestoßen. Die Gebiete nahe Charkiw seien noch länger als Butscha und Irpin unter der Kontrolle der Russen gewesen, meint Yakubowska. Sie sorgt sich besonders um Aktivisten, die in den ehemals besetzten Gebieten in den vergangenen Monaten Zivilisten versorgt haben. „Wie viele von ihnen sind getötet oder gefoltert worden?“, fragt sie.
Wie viele von ihnen sind getötet oder gefoltert worden?
Viele Mitstreiter in ihrem Verein hätten Freunde verloren, meint die Aktivistin. Sie selbst habe einen Freund in der Ukraine, der unter Lebensgefahr humanitäre Güter in die Nähe der Front bringe. Statt zu feiern, sei es angebrachter, denjenigen Respekt zu zeigen, die Opfer bringen, findet sie.

Menschen brauchen mehr Hilfe im Winter
An Mutmaßungen über ein Bröckeln der Zustimmung für Wladimir Putin in Russland nach der Niederlage bei Charkiw möchte sich die Aktivistin nicht beteiligen. Was künftig in Russland geschehe, sei Sache der Russen. Ihr Verein arbeite mit Hochdruck daran, vor dem nahenden Winter mehr Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen. Warme Kleidung, Lebensmittel und Powerbanks würden angesichts der seit der Niederlage von Charkiw verstärkten Angriffe der Russen auf die Strom- und Wärmeversorgung dringend benötigt, meint Yakubowska. Russlands Vergeltung zeige sich bereits in der Zerstörung der für das Überleben wichtigen Infrastruktur aus der Luft. „Ich weiß nicht, was noch passieren wird. Aber wir tun die Dinge, die in unserer Macht stehen“, sagt sie.
Die Vorsitzende des Zentralverbands der Ukrainer in Deutschland (ZVUD), Lyudmyla Mlosch, erzählt ebenfalls von euphorischen Reaktionen vieler Geflüchteter auf den Erfolg der Offensive. Der ZVUD betreut Geflüchtete aus der Ukraine im Interkulturellen Zentrum Pangea-Haus unweit des Hohenzollerndamms. „80 Prozent wollen zurück, selbst wenn ihre Wohnungen zerstört sind“, meint Mlosch. Der Mut der Soldaten sei ansteckend, schildert Mlosch. Es gebe aber noch keine Aussicht auf ein zivilisiertes Leben in den befreiten Gebieten.
Die Russen könnten Vergeltung üben
Auch Mlosch fürchtet weitere Vergeltung der Russen. „Sie sehen jetzt, dass ihr Glaube, die Größten zu sein, nicht mit der Realität übereinstimmt“, sagt Mlosch. Sie denke mit Sorge an das von den Russen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja. „Ich hoffe, sie verstehen, dass die Wolke auch zu ihnen ziehen kann“, sagt Mlosch.



