Kolumne Ostbesuch (3)

Sächsisch für Anfänger: Hilfe, meine Tochter ist fischelant!

Es gibt keine Mauer mehr zwischen Ost und West, aber immer noch den Moschendrodzoan. Zumindest wenn man Sächsisch nicht bomforzionös, sondern komisch findet.

Von B nach C, Ostbesuch, 263 km
Von B nach C, Ostbesuch, 263 kmBerliner Zeitung/Pajović/Amini

Auf einmal stand es im Klassenraum, dieses seltsame Wort oder mehr noch: Eine beunruhigende Diagnose? Meine Tochter sei „fischelant“, sagte die Lehrerin am Ende des ersten Elterngesprächs, und während sie nach einer passenden Übersetzung vom Sächsischen ins Deutsche suchte, fand ich mich in einer fantasierten Unterwasserwelt wieder.

Ich sah meine siebenjährige Tochter, wie sie offensichtlich fischelant ihren Unterkiefer lockerte und leicht nach vorne schob, als wäre sie ein besonders bärbeißiger Barsch. Dann hörte ich sie Dinge sagen, aber ich verstand sie einfach nicht. Ihre Vokale waren so weich wie in Meeresschaum gebadet, das A und Au klangen wie O oder Oo, das E wie Ä, das Ei wie ein weeches Ee. Und dann vertauschte sie auch noch die Konsonanten: Das T war jetzt ein D, das K ein G, jedes P ein B, jedes Ch ein Sch. Hilfe, dachte ich, meine Tochter blubbert in fremden Zungen. Was habe ich ihr angetan? War es also doch ein Fehler, von Berlin nach Chemnitz zu ziehen? Und ist Fischelanz womöglich eine unheilbare Tiefseekrankheit?

Vor ein paar Tagen wurde in Sachsen das Wort des Jahres gekürt, und es ist für Außersächsische erstaunlich, mit wie viel Bedeutung man fünf Buchstaben aufladen kann. Ein Jurymitglied schrieb über den Siegerbegriff „Därre“: Er „beschreibt die Gegenwart, die Zukunft, die Folgen des Klimawandels, den politischen Waschlappenzustand und das persönliche Befinden am heimischen Krisenherd. Aber das ist längst nicht alles“. Denn Därre kennzeichne nicht nur eine spezielle Gewichtsklasse von Personen aller Geschlechter, sondern auch Unfruchtbarkeit und stehe für abgehängte Dörfer, technische Geräte sowie lang lagerbares Obst und Fleisch. Und wer jetzt Därre bloß mit Dürre ins Deutsche übersetzt, hat eben Sachsen nicht kapiert.

Nur echt mit drei O: die Wooosn in Korl-Morx-Stodt.
Nur echt mit drei O: die Wooosn in Korl-Morx-Stodt.Paul Linke

Habe ich nach ein paar Monaten selbst noch nicht. Aber immerhin weiß ich bereits, dass man die Münchener Wiesn und die Stuttgarter Wasen hier in Chemnitz – sprich: Korl-Morx-Stodt – noch einmal steigern kann und dann eben auf die – nur echt mit drei O – Wooosn geht. Wo man dann bischlt, bis der Nischl babsch wird und man sich wieder deheeme budzsch fühlt, wenn man nicht vorher auf die Gusche geflogen ist. Aber fischelant? Hatte ich noch nie gehört.

Als Kind habe ich den Mauerfall erlebt und als Teenager erstmals bemerkt, dass es immer noch eine Trennung gab zwischen Ost und West: den Moschendrodzoan. 1999 lachte die halbe Nation über die sächsische Hausfrau Regina Zindler, die bei Richterin Barbara Salesch im Fernsehen auftrat und verlangte, dass ihr Nachbar den Komposthaufen samt Knallerbsenstrauch entfernt. Natürlich stürzte sich später der Billig-Gag-Geier Stefan Raab auf die arme Frau. Was haben wir gelacht. Wie haben wir alle Ossis zu Sachsen gemacht. Wie hartnäckig sind doch die Vorurteile. Und wie dünn die Wissenslage. Oder wer weiß schon, dass Sächsisch die Sprache ist, die Luther als Grundlage seiner Bibelübersetzung nutzte?

„Pfiffig“, sagte die Lehrerin plötzlich und ich tauchte wieder auf und war erleichtert, dass meine Tochter kein Fisch oder Schlimmeres und unheilbar krank ist. Es ging mir großartig. Oder um es mit meinem Liebling aus dem sächsischen Wortschatz zu sagen: bomforzionös. Wären da nicht diese Därren überall.


In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!