Man stelle sich die Medizin von morgen vor: Kinder mit seltenen Erbkrankheiten werden geheilt, Alzheimer, Krebs, Parkinson und Herzkrankheiten erfolgreich behandelt. Vor zu großen Heilsversprechen sollte man sich zwar hüten. Aber nach Aussagen von Medizinern sind in den letzten Jahren die Technologien reifer, die Effizienz größer, die Behandlung für die Patienten sicherer geworden. Konkret geht es um Gen- und Zelltherapien. Um diese voranzubringen, will Berlin ein neues Zentrum gründen.
„Wir stellen heute die Weichen für ein bundesweit einzigartiges Zukunftsprojekt“, sagte Franziska Giffey, die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, am Dienstag im Roten Rathaus. Gemeinsam mit Vertretern der Berliner Charité und der Bayer AG unterzeichnete sie ein sogenanntes Memorandum of Understanding (MoU) – eine Absichtserklärung, in Berlin ein Zentrum für Translation im Bereich der Gen- und Zelltherapie zu errichten. Der mögliche Ort: das Gelände von Bayer am Berliner Nordhafen.
Umprogrammierte Zellen und reparierte Gene
Worum geht es konkret? Bei der Zelltherapie werden Erkrankungen mit lebenden Zellen behandelt, die speziell gezüchtet oder Patienten entnommen und neu programmiert werden. Mithilfe dieser Zellen soll sich der Körper selbst reparieren und geschädigte Zellen durch gesunde neue Zellen ersetzen, etwa bei Unfällen, Verbrennungen, Herzschwäche oder Krebs. Bei der zellulären Immuntherapie gegen Krebs werden zum Beispiel Immunzellen gentechnisch so verändert, dass sie bösartige Zellen erkennen können, auch wenn es sich um körpereigene Zellen handelt. Mit Stammzelltherapien könnten vielleicht eines Tages auch Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer rückgängig gemacht werden, die heute noch irreversibel sind.
Bei der Gentherapie werden gezielt Gene ersetzt oder repariert, um Funktionsstörungen zu beheben. Das passiert zum Beispiel, indem man Zellen mit einem genetischen Defekt entnimmt, sie in einer Kultur zum Wachsen bringt und ihnen ein therapeutisches Gen zufügt. Die reparierten Zellen werden dem Körper wieder zugeführt, um die Erkrankung zu behandeln. Von solchen oder anderen Methoden erhoffen sich Mediziner unter anderem Heilungsmöglichkeiten für seltene Erkrankungen, von denen etwa 80 Prozent genetisch bedingt sind. Sie verursachen 35 Prozent der Todesfälle im ersten Lebensjahr. Insgesamt leiden etwa drei bis vier Millionen Menschen in Deutschland daran.
Zu Erbkrankheiten, die von einem defekten Gen verursacht werden, gehören die Hämophilie (Bluterkrankheit), die Huntington-Krankheit, die Sichelzellanämie und Muskeldystrophien, die zum Muskelverlust führen. Betroffene sterben oft schon im Teenageralter. Berliner Forscher haben jüngst eine gentherapeutische Methode gegen eine Form dieser Krankheit entwickelt. Sie ebne „den Weg für die erste mögliche Zelltherapie genetisch bedingter Muskelschwunderkrankungen“, hieß es in der Mitteilung dazu. Damit könnten vielleicht künftig Kinder vor einem frühen Tod gerettet werden.
Die vielen Forschungsprojekte sollen gebündelt werden
Es gebe etwa 40 bis 50 weit fortgeschrittene Projekte im Bereich der Gen- und Zelltherapien in Berlin, sagte der Molekularbiologe Christopher Baum, Vorstandsvorsitzender des Berlin Institute of Health (BIH) an der Charité, im Roten Rathaus. Das neue Zentrum soll die Ansätze bündeln, die Zersplitterung der Forschungslandschaft überwinden, neueste Erkenntnisse schnell erproben und in Therapien überführen – was als Translation bezeichnet wird.
„Wir sind noch am Anfang“, sagte Stefan Oelrich, Vorstandsmitglied von Bayer, was die konkrete Gestaltung des Zentrums betreffe. Eine gemeinsame Steuerungsgruppe werde eingerichtet, heißt es im Memorandum. Seit Monaten habe Bayer mit der Charité und dem darin eingegliederten BIH das Projekt entwickelt und vorangetrieben. Das Zentrum am Nordhafen könnte vielleicht 300 Arbeitsplätze haben und mit einem niedrigen dreistelligen Millionenbetrag gefördert werden, hieß es am Dienstag auf Nachfrage. Es liege sehr günstig, genau zwischen den Charité-Standorten Mitte und Virchow. Perspektivisch stellen sich die Akteure ein „einmaliges Ökosystem“ der Biotech-Branche „entlang des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals“ vor.
Im Zentrum selbst sind ein „Inkubator“ – mit Laboren, Büros und Produktionsstätten – und ein Netzwerkbüro geplant, das den Austausch mit anderen Forschungsstandorten fördert. In den Produktionsstätten sollen sogenannte Prüfpräparate für neue Therapien entwickelt werden, die dann auch klinisch getestet werden können. Die Patientenvertretungen wolle man früh einbinden, heißt es in der Vereinbarung.
Franziska Giffey schreibt einen Brief an Olaf Scholz
Die Initiatoren des Zentrums sind sich durchaus bewusst, dass Gen- und Stammzelltherapien umstritten sind. Deshalb soll auch der gesellschaftliche Dialog zu deren Chancen und Risiken gefördert werden. „Normative, ethische und gesellschaftliche Fragen müssen diskutiert werden“, sagte Stefan Oelrich von der Bayer AG. Interessierte Bürger, Wissenschaftler und Betroffene sollen dazu eingeladen werden. „Besonders freut mich, dass auch das Thema Alternativen zu Tierversuchen im Zentrum integriert wird“, sagte die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote.
„Wir planen und arbeiten in einer offenen Struktur“, sagte Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité. So sollen mithilfe des Landes Berlin weitere Partner gewonnen werden. Auch die Förderprogramme des Landes sollen genutzt werden. Berlin will sich zugleich bemühen, Bundesmittel zu gewinnen. „Ich werde noch heute an Bundeskanzler Olaf Scholz schreiben und ihn von diesem einzigartigen Projekt in Deutschland informieren“, sagte Franziska Giffey.
Verschiedene Projekte setzen an den menschlichen Zellen an
Bereits im Oktober 2021 hat die Berliner Zeitung von einem ähnlichen Berliner Projekt berichtet. Damals gründeten verschiedene Partner einen Verein, um in Berlin ein Zentrum der „zellbasierten Medizin“ zu schaffen. An einer neuartigen Zellklinik – dem Berlin Cell Hospital (BCH) – sollen Leiden wie Krebs, Alzheimer und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bereits in ihrem frühesten Stadium erkannt und behandelt werden, ausgehend von Prozessen in der einzelnen Zelle. Auch hier geht es um Translation neuester Erkenntnisse und die Schaffung eines weltweit führenden Innovationsstandorts, wie der Systembiologe Nikolaus Rajewsky vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch erklärte, einer der führenden Köpfe des Projekts.

