Es stinkt am Ufer der Oder. Der süßlich-beißende Geruch von Verwesung liegt in der Luft. „Boah, ist das eklig“, sagt die Rangerin Milena Kreiling und hebt, wie zum Schutz, ihre Kamera vors Gesicht. Zu ihren Füßen schaukeln in den sanften Wellen Hunderte tote Fischleiber. Ihre aufgeblähten Bäuche ragen in die Luft, ihre Augen starren ins Leere. Nur ein kleiner Wels schlängelt sich durch das seichte Wasser, seine Flossen gleiten über die Kadaver. Er ist das letzte Überbleibsel einer Welle der Vernichtung. „Der wird auch nicht mehr lange machen“, sagt Kreiling und drückt auf den Auslöser.
Sie hat sich schon um 6.30 Uhr an diesem Samstagmorgen auf den Weg gemacht, an den breiten Fluss im Nationalpark Untere Oder. Sie will den Tod dokumentieren, der sich hier ungehindert ausbreitet, seit er am Donnerstag das Naturschutzgebiet erreicht hat. Fast unheimlich still ist es hier. Kreiling schaut hinaus auf das Wasser, wo die Fisch-Kadaver flussabwärts treiben, wie sonst nur Eisschollen im Winter. „Wir sehen ja nur die Oberfläche“, sagt sie. „Unterwasser ist Todeszone.“
Vermutlich ist das, was Kreiling hier sieht, eine Jahrhundert-Katastrophe, ein Super-GAU für die Umwelt. Nicht nur hier im Nationalpark, sondern entlang der gesamten Oder treiben Tonnen von totem Fisch, Krabben, Muscheln und Schnecken durch das Wasser. Nach allem, was man bisher weiß, sind toxische Chemie-Stoffe in den Fluss gelangt. Eine erste Untersuchung deutscher Umweltbehörden hatte eine stark erhöhte Konzentration von Quecksilber im Wasser festgestellt. Wo aber der Eintrag genau geschah, wie, und vor allem auch warum, all das kann bislang noch niemand sagen. Im Grunde weiß man zur Stunde noch so gut wie nichts. Nur, dass die Verunreinigung irgendwo in Polen passiert sein muss, das steht fest. Denn dort ist das Fischsterben schon seit Ende Juli bekannt.
In Deutschland wurden die ersten toten Fische am Dienstag in der Nähe von Frankfurt (Oder) entdeckt. Die Behörden hierzulande traf das scheinbar völlig unvorbereitet. Von allen Seiten ist nun zu hören, wie schlecht die Kommunikation der polnischen Kollegen gelaufen sei. Man sei nicht gewarnt worden, heißt es aus dem Umweltministerium in Berlin, eine für solche Fälle extra eingerichtete Meldekette sei nicht eingehalten worden. Die brandenburgische Nabu-Chefin spricht sogar von massiver Vertuschung.
Keine Kooperation durch die polnischen Behörden
Obwohl bereits am 26. Juli tote Fische in der polnischen Oder entdeckt und Wasserproben entnommen worden waren, gab es weder Hinweise an die deutschen Behörden noch Badewarnungen oder Angelverbote an die eigene Bevölkerung. Zunächst sprach die polnische Umweltbehörde auch nur von niedrigen Sauerstoffwerten im Wasser, erst später von toxischen Stoffen. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki schrieb am Freitag, 12. August, auf Facebook, er wolle „schreien vor Wut“ und kündigte eine Belohnung von 210.000 Euro an, für denjenigen, der die Täter finde. Da war die Katastrophe schon lange in Deutschland angekommen. Gewarnt hatte auch er nicht.
Für den Nationalpark könnte die Chemie-Verschmutzung gravierende Folgen haben. Milena Kreiling, 31, die seit dreieinhalb Jahren hier als Park-Rangerin arbeitet, sagt, bisher seien die umliegenden Auenwälder zwar noch nicht von der Vergiftung betroffen. Durch das extreme Niedrigwasser, das derzeit auf der Oder herrsche, gäbe es keinen Anschluss zu den Seitenarmen. „Gott sei Dank“, sagt sie. Doch jedes Jahr im Herbst lässt der Park, über Wehre entlang des Flusses, die Auen fluten. „Die gesamte Natur hängt von dieser Wasserzufuhr ab,“ sagt Kreiling. Möglicherweise könne das in diesem Jahr gar nicht gemacht werden. Eine „Friss oder Stirb“-Situation: Entweder die Auen verdursten oder sie werden mit kontaminiertem Wasser überschwemmt.

Und noch eine Gefahr besteht durch die toxischen Stoffe im Wasser für die Natur drumherum. Kreiling schaut durch ihr Fernglas auf die gegenüberliegende, polnische Seite der Oder. Auf einer breiten Sandbank sind dort Krähen, Reiher, Kormorane und sogar ein Storch zu sehen. Und etliche Fischkadaver, an denen sich die Vögel sattfressen. „So gelangen die Gifte in die Nahrungskette“, sagt Kreiling traurig. Und nicht nur über die Vögel. Auch Mader, Waschbären und Fischotter hielten sich nicht vom üppigen und leider tödlichen Festmahl fern. Bereits hier, wo sie steht, sind viele der Fischkadaver aufgerissen, ihre Innereien verteilt, manchen fehlt der Kopf.
Ein Fahrradfahrer hält hinter Kreiling. „Man denkt ja manchmal, die im Fernsehen sagen nicht die Wahrheit“, ruft er und schaut entsetzt auf die Verwüstung, „aber Mann oh Mann!“
„Ja, es ist heftig und es wird noch mehr“, sagt Kreiling. Eine der Hauptaufgaben der Park-Ranger ist die Kommunikation mit Besuchern.
Radfahrer: „Mir tun auch die Angler leid.“
Kreiling: „Ja und die Berufsfischer, der Tourismus, es sind alle Kanu-Fahrten abgesagt, das wird sich für die Region noch enorm auswirken.“
Radfahrer: „Ich hoffe, dass man die Schuldigen findet.“
Kreiling: „Das hoffe ich auch.“ Sie rückt ihren runden Hut zurecht, der an Ranger in Kanada erinnert, und steigt in ihren grünen Van. Der Radfahrer fährt weiter.
Die Menschen an der Oder warten verzweifelt auf Antworten
Die Frage nach der Schuld wird mit jedem Tag der Unkenntnis immer drängender. In Brandenburg ermittelt das LKA zu den Vorfällen an der Oder. Unterdessen berichtet die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza über eine Papierfabrik in Ohlau, einer Stadt in der Nähe von Breslau. Dort hätten Anwohner schon im März beobachtet, dass giftige Abwässer aus der Firma direkt in den Fluss gespült worden seien. Der Leiter des Nationalparks Untere Oder, Dirk Treichel, verweist hingegen im Telefon-Gespräch auf den Ausbau der Oder auf polnischer Seite. Dieser fände trotz erheblichen Protests aus Deutschland statt. „Es könnte auch sein, dass bei den Abbaggerungen Sedimentschichten freigelegt wurden, die mit uralten Schadstoffen belastet sind“, sagt er.
Und während die Menschen am Fluss weiterhin auf Antworten warten, versuchen sie verzweifelt, etwas gegen eine Naturkatastrophe zu unternehmen, die längst geschehen ist. Nicht weit von der Stelle entfernt, an der Milena Kreilig gerade noch die toten Fische fotografiert hat, trifft sie auf eine Gruppe der Freiwilligen Feuerwehr aus Schwedt.

Es sind etwa ein Dutzend Mann. Drei von ihnen tragen weiße Schutzkleidung und lange rote Handschuhe. Um ihre Hüften haben sie Seile gebunden, die von ihren Kollegen festgehalten werden, damit sie nicht ins giftige Wasser stürzen. Mit Keschern schöpfen sie die toten Fische vom Ufer und schmeißen sie in Mülltonnen. Später würde alles in der Verbrennungsanlage der PCK Raffinerie in Schwedt verbrannt, sagen sie.
Einer der Männer würgt, ein anderer hat unnatürlich rote Flecken im Gesicht. Ein bisschen panisch wischt er mit seinem Ärmel über Wangen und Stirn. Ein dritter, wendet sich empört an Kreiling: „Wo sind denn jetzt die Naturschützer“, ruft er. Er sei maßlos enttäuscht, sagt der Mann, „das ist eine riesengroße Scheiße, die hier passiert ist“. Dass auch Kreiling nichts für das Massensterben in der Oder kann, scheint ihm egal zu sein. Ein vierter, älterer Mann, schaut dem ganzen Treiben nachdenklich zu. „Ich habe schon vieles erlebt“, sagt er, „aber so etwas, so ein Ausmaß der Zerstörung, das hab ich noch nie gesehen.“




