Offene Briefe von Intellektuellen hatten in den vergangenen Monaten keinen guten Lauf, egal, ob Corona-Besorgte sie absandten oder Freunde einer Verhandlungslösung mit dem kriegerischen Aggressor Putin. Dass diese Rohrkrepierer nicht gegen die Form an sich sprechen, belegt nichts besser als der berühmteste offene Brief, gewissermaßen die Mutter aller offenen Briefe, geschrieben vor 125 Jahren von Émile Zola, einem der berühmtesten französischen Schriftsteller, unter der knappen Überschrift „J’Accuse …!“ (Ich klage an …!) an Félix Faure, den damaligen Präsidenten der Französischen Republik.
Der Text erschien am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore. Er sollte den Lauf der französischen Geschichte ändern und später als Geburtsurkunde eines Akteurs in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gelten: des Intellektuellen, der sich mit der Kraft des Wortes in politische Angelegenheiten einmischt.
Émile Zola klagt an – den damaligen Präsidenten der Französischen Republik
Zola empörte sich in seinem offenen Brief über einen seit drei Jahren schwelenden Skandal. 1894 war der französische Hauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblicher Spionage für das Deutsche Reich zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Als der eigentliche Verräter, Major Charles Ferdinand Walsin-Esterhazy, im Januar 1898 freigesprochen wurde, entschloss sich Zola zum lauten Protest.

In seinem Enthüllungstext belegte er, dass die Anklage gegen Dreyfuss auf gefälschten Beweisen beruht hatte. Er war überzeugt, dass Dreyfus verurteilt wurde, weil er Jude war. „Meine Pflicht ist es zu sprechen“, teilte er dem Präsidenten mit, und nannte den Fall Dreyfus einen Schandfleck auf der Weste des Präsidenten. Punkt für Punkt legte Zola den Betrug offen und benannte die Namen der Verantwortlichen, deren Motive und Schuldanteile.
Zola war überzeugt, dass Dreyfus verurteilt wurde, weil er Jude war
Die bis dahin bereits an die Öffentlichkeit gelangten Beweise für Dreyfus’ Unschuld hatte der Staat beiseite gewischt – bloß wegen eines Juden das Spionageverfahren wieder aufzunehmen, passte nicht in die Stimmung der Zeit. Die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 empfanden viele als nationale Schmach. Krisen schüttelten die zu hohen Reparationszahlungen an das deutsche Kaiserreich gezwungene Republik. Dass Alfred Dreyfus gebürtiger Elsässer war, also aus einer Gegend stammte, der latente Deutschenfreundlichkeit unterstellt wurde, stützte das juristische Lügenkonstrukt.

Der Kampf mit der Feder
Obendrein gab eine Neuerung im Druck- und Pressewesen dem nationalen und antisemitischen Affen Zucker, in der Wirkung den heutigen sogenannten sozialen Medien vergleichbar: Billige Massenblätter ergossen antisemitische Hetze gemeinster Art über die Leute – vor allem erlaubte die neue Technik die massenhafte Verbreitung bösartigster antisemitischer Karikaturen.
Im kaiserlichen Deutschland sah man solch üblen Schund zu jener Zeit nicht, obwohl seit 1879 der vom konservativ-nationalistischen Historiker Heinrich von Treitschke ausgelöste Berliner Antisemitismusstreit tobte. Sein Satz „Die Juden sind unser Unglück“ sollte später zum Schlagwort des nationalsozialistischen „Stürmer“ werden.
In Frankreich zweifelte die große Mehrheit zunächst nicht daran, dass Staat und Militär ganz richtig gegen den vermeintlichen jüdischen Landesverräter vorgingen. Und doch blieb ausreichend Unbehagen, um mit Zolas Protest eine Wende einzuleiten, die schließlich mit der vollständigen Rehabilitierung von Hauptmann Alfred Dreyfus endete. Die Affäre wurde zur Zerreißprobe – hier der reaktionäre Verbund aus Militär, Klerus und Monarchisten, dort liberale, republikanische, linke Kräfte.
J'accuse...!-Brief in Französischer Botschaft in Berlin ausgestellt
Die Geschichte der Staatsaffäre, die Hintergründe und Wirkungen thematisiert eine Ausstellung, die nun anlässlich des 125. Jahrestages der Veröffentlichung des berühmten Briefes in der französischen Botschaft in Berlin zu sehen ist. Die umfangreich ausgestattete Wanderausstellung zeigt eindrucksvolle Dokumente, auch etliche der bösartigen Karikaturen. Sie wurde von der Moses-Mendelsohn-Stiftung zusammen mit Studentinnen und Studenten der Universität Potsdam erarbeitet.
Für Zola brachte seine Kampfschrift jahrelange Beschwerlichkeiten: Er wurde noch 1898 vom Kriegsminister und anderen Privatpersonen verklagt, mit politischen Prozessen überzogen und wegen Diffamierung zu einer Geldstrafe und kurzer Haft verurteilt. Den Strafen entzog er sich im Londoner Exil, wo er fast ein Jahr lang blieb.
Der Verleger der Zeitung L’Aurore, Georges Clemenceau, der Zolas Text auf Seite 1 platziert und in Rekordauflage von 300.000 Exemplaren in Paris hatte verteilen lassen, wurde 1906 französischer Premierminister, dem Jahr, in dem Alfred Dreyfuss nach mehreren Zwischenschritten endgültig freigesprochen wurde.
Bei der Eröffnung der Ausstellung am 16. Januar 2023 fand der offene Brief als Form, Zivilcourage zu zeigen, allgemeinen Zuspruch.


