Ich stehe im Backstage-Bereich der Fusion, Deutschlands größtem Techno-Festival, und warte auf einen Kaffee. Um mich herum tragen wichtige Menschen Funkgeräte. Je größer das Gerät, desto wichtiger die Person. Wer im Backstage kein Funkgerät hat, steht Schlange, fürs Frühstück, Mittagessen oder Kaffee. So wie ich jetzt. Mein Blick hängt abwesend an einer Diskokugel im Baum. Ich bin müde, weil meine erste Nachtschicht hinter mir liegt.
Das Fusion Festival findet dieses Wochenende zum 21. Mal in Lärz statt. Gegründet wurde es als Kulturinitiative auf dem Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes, um die Jugendkultur in der Region zu unterstützen und rechten Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern etwas entgegenzusetzen. Mittlerweile ist die Fusion mit 70.000 Besuchern das größte Techno-Festival Deutschlands. Vor zwei Jahren fiel es aus, letztes Jahr fand eine Mini-Version statt.
Ich glaube, wer einmal auf die Fusion fährt, wird wiederkommen. Denn das Festival ist mehr als seine Größe, als die vegetarische Verpflegung und die selbstgezimmerten Bühnen. Mit der Fusion wollen die Veranstalter für knapp eine Woche eine Parallelwelt schaffen, in der Menschen sich frei von Zwängen und kapitalistischer Logik ausleben können. 7000 Crew-Mitglieder aus 200 linken Jugend- und Kulturorganisationen arbeiten dafür ehrenamtlich über Monate an der Durchführung des Festivals und prägen die Infrastruktur, das Programm und vor allem das Gefühl auf dem Platz. Und seit zehn Jahren bin ich eine von ihnen.
Mit 17 war ich das erste Mal hier. Damals hatte ich den Abi-Ball sausen lassen und bat meine Eltern, das Zeugnis abzuholen. Heute bin ich 28. Das klingt jung, aber zehn Jahre Rave sind mehr als die meisten schaffen. Als ich das erste Mal das Festival besuchte, konnte man noch einen Zettel von den Eltern unterschreiben lassen und ohne Begleitung auf das Gelände kommen. Ich habe in dem Jahr schon im Zug so viel getrunken, dass ich bis heute keine Erinnerungen an meine ersten Tage auf diesem Festival habe.
War auf der Fusion früher alles besser?
Es ist Donnerstagmorgen. Die Fusion 2022 ist noch gar nicht eröffnet, da beginnen im Backstage die Gespräche, die ich auch von Berliner Kneipenabenden kenne. Die Sätze beginnen mit „Früher…“ und enden mit „…besser“. So klingt jede Kritik am Festival, den Besuchern, dem Programm und der Stimmung. Eigentlich sind es doch die Rechten, die Konservativen, die immer nach hinten wollen. Zurück in eine Vergangenheit, in der alles besser war. Aber Fusion bedeutet für mich: Fortschritt, politisch nach vorne in eine neue Welt.

Persönlich weiterkommen, egal ob mit der Erfahrung von „Ferienkommunismus“, dem jahrelangen Motto des Festivals, oder im Selbstexperiment mit bewusstseinserweiternden Drogen. Doch inzwischen beginnen auch im Backstage die Gespräche mit: „Früher…“. Ich frage mich, was die Fusion heute in den Augen meiner Freund:innen so viel schlechter machen soll und nutze die Zeit bis zur großen Eröffnung, um mich umzuschauen.
Die „Botschaft“ ist leer. So heißt der Ort, an dem die Gäste ihre Festivalbändchen bekommen, das sie manchmal das ganze Jahr mit sich herumtragen. Die meisten Gäste sind schon am Mittwoch angereist. Sie haben sich vor vielen Monaten in ein Tombola-System eingetragen, um mit etwas Glück ein Festivalticket zu gewinnen. Haben sie gewonnen, können sie eine Bezahloption anfordern, um im nächsten Schritt zu bezahlen. Fusion ist nicht einfach Click&Go. Auf die Fusion musst du wollen. Die Gäste bereiten sich wochenlang vor, nehmen sich die Tage vor und nach dem Festival frei. Die meisten haben haben im Alltag nur selten Kontakt zur linken und alternativen Szene.
Sie arbeiten in normalen Jobs, haben Familien, haben das, was man so geregeltes Leben nennt. Hier lassen sie all das hinter sich. Wer an der Botschaft ankommt, blickt zum ersten Mal auf das Gelände, sieht die bewachsenen Hänger mit kyrillischen Buchstaben zwischen den Türmen der Bühnen mit ihren Lichtinstallationen. Sieht Banner und Graffiti, schrottreife, bemalte Autos mit deren herausgeschlagenen Türen und hört die verschwommene Mischung der Musik von dutzenden Bühnen mit den besten Anlagen der Welt.
An der Botschaft schiebt Jonas sein Trackingfahrrad durch eine Zick-Zack-Absperrung. Er trägt Funktionskleidung und sieht müde, aber glücklich aus. Eigentlich hätte er schon gestern da sein wollen. Dafür hat er extra sein Fahrrad mitgenommen, um die 32 Kilometer zwischen Neustrelitz und der Fusion auch noch spät abends fahren zu können. Nach sechs Kilometern ist ihm die Kette gerissen und er hat sein Fahrrad und alle seine Sachen die ganze Nacht lang bis aufs Festival-Gelände geschoben. Wir lächeln uns an, wie es die meisten Leute machen, wenn sie auf der Fusion ankommen.

Mit dem Fahrrad zur Fusion
Müde sagt er: „Ich komme jedes Jahr her, eigentlich immer mit dem Fahrrad.“ Als ich Jonas frage, ob sich das Festival verändert hat, winkt er ab. „Klar hat es sich verändert, aber das ist doch gut.“ Ich will weiter nachfragen, aber Jonas hat sein Bändchen schon bekommen und will lieber aufs Gelände, als mit mir über alte Zeiten zu reden.
Die offizielle Eröffnung des Festivals steht kurz bevor. Die großen Bühnen werden nacheinander ihr Programm starten und die Festivalbesucher beginnen das, was auch auf der Fusion Vorglühen heißt. Die Stimmung ist jetzt ausgelassener, als ich auf den Platz komme. Auf einer Bühne spielt als Warm-up eine Punk-Band. Punker springen neben Männern in Leinenhemden und Frauen ohne BH. Als ich gerade weitergehen will, winkt mich ein Bekannter zu sich, den ich schon seit vielen Jahren vom Festival kenne. Einen Sommer haben wir nebeneinander gecampt und er hat mir einen Schlafsack geschenkt, als ich meinen verloren habe.
Er liegt auf einem Podest, seine Haut ist staubig und er kichert. „Ich ziehe jetzt meine erste Line des Festivals.“ Er erzählt, wie er gestern schon gefeiert hat. Der klassische Fehler. Am Anfang des Festivals alle Kraft verbraten und dann durchhängen. Er konnte nicht anders. Die Vorfreude war zu groß. „Findest du, die Fusion war früher besser?“, frage ich ihn, auch um von der Line abzulenken, die er mir auf seinem Handy entgegenschiebt. „Es ist alles viel teurer geworden. Und zu kommerziell.“
Das Ticket für das Wochenende kostet 220 Euro
Natürlich hat er irgendwie recht, denn das Ticket für das Wochenende kostet mittlerweile 220 Euro. Für eine Flasche Club-Mate mit einem Schuss Wodka zahlen die Besucher an der Bar sieben Euro. Wer durch den hohen Preis ausgeschlossen wird, kann sich als Supporter, also als freiwilliger Helfer, auf dem Festival melden und für sein Ticket arbeiten. Vielleicht nicht die optimale Lösung an einem Ort, an dem sich die Besucher freimachen sollen von kapitalistischen Zwängen, aber es scheint zu funktionieren.
Dennoch ist die Fusion noch lange kein profitorientiertes Festival. Die Einnahmen der bezahlten Tickets fließen in die Produktion des Festivals, in alternative Kulturprojekte, werden gespendet oder fließen zurück in die Infrastruktur des Ortes. Die Summen, die damit jedes Jahr erwirtschaftet werden, sind enorm, und in der Kommerzialisierung liegt auch eine Chance, denn je mehr Geld das Festival einnimmt, desto mehr fließt zurück in andere Orte, die die unkommerzielle Idee der Fusion weitertragen.
Als die Subwoofer-Reihen an der Turmbühne die ersten Bässe anspielen, geht ein Kreischen durchs Publikum. Den Sound der Boxen soll man an jeder Stelle perfekt fühlen. Freundesgruppen stehen in kleinen Kreisen um selbst gebastelte Leuchtstäbe und prosten sich zu. Eine Gruppe in Fetisch-Outfits schenkt einander Sekt ein und eine Frau bemalt das Gesicht ihrer Freundin mit Glitzer.

Die Fusion ist nicht schlechter geworden, sondern besser
Auch das ist Fusion. 30.000 Menschen auf einem Floor, von denen nur ein Bruchteil die politische Idee hinter dem Festival wirklich kennt. Gäste, die gekommen sind, um Spaß mit ihren Freunden zu haben und den Alltag zu vergessen. Die Fusion gehört jetzt genauso ihnen wie uns im Backstage, denn wer den Ferienkommunismus ausruft, muss auch damit leben können, dass ihn nicht alle teilen.
Die Fusion ist deshalb nicht schlechter geworden, sondern besser. Ich kenne keinen anderen Ort in Deutschland, in dem sich 70.000 unterschiedliche Menschen über ein Wochenende so annähern, als dieses Festival. Für die allermeisten ist die Fusion eine Unterbrechung ihres Alltags, und ihre Erinnerungen an das Wochenende nehmen sie mit ins kommende Jahr. Und mit jedem Jahr beginnen auch sie, sich als Teil des Festivals zu sehen. Denn die Fusion wird sich immer weiter entwickeln und vielleicht werden auch sie dann finden, dass es früher mal besser war. Aber dieses früher, von dem sie sprechen, ist dann genau jetzt.










