Raus aus der Berliner Kriminalität

Ehemaliges Weddinger Gang-Mitglied gibt 100 Tipps für den Ausstieg

Arye Sharuz Shalicar hat ein Buch darüber geschrieben, wie er vom kriminellen Berliner Gang-Mitglied zum israelischen Armeesprecher avancierte.

In den Neunzigern in Wedding: Arye Sharuz Shalicar auf dem Beifahrersitz im Auto eines Kumpels.
In den Neunzigern in Wedding: Arye Sharuz Shalicar auf dem Beifahrersitz im Auto eines Kumpels.Privat

Berlin-Man kann wohl sagen, dass er einer der größten Unsympathen war, die einem in Berlin begegnen. So wie sich Arye Sharuz Shalicar selbst schildert, möchte man ihm nicht im Dunkeln begegnet sein, einem dieser Typen, bei denen manch einer die Straßenseite wechselt. Shalicar, der erst in Spandau und dann im Wedding aufwuchs, verbrachte seine Zeit in den 90er-Jahren mit Klauen, Graffiti und Raubüberfällen.

Inzwischen ist er 44 Jahre alt und hat längst den Ausbruch aus dem kriminellen Milieu Weddings geschafft. Er ist Major der Reserve in der israelischen Armee, deren Sprecher und Beamter der israelischen Regierung. Er schreibt Bücher und ist Kolumnist.

Bis dahin war es ein harter Weg. In seiner Berliner Zeit hing Shalicar mit der türkischen „Black Panthers“-Gang vom Nauener Platz ab. Er hatte beste Freunde bei den libanesisch dominierten „Kolonie Boys“ des El-Zein-Clans und war Anführer der größten Graffitibande Berlins: „Berlin Crime“, die nachts im Kiez unterwegs war und sprühte, pöbelte und Chaos veranstaltete. „Berlin Crime hat mir Sinn im Leben gegeben. Zumindest aus der Sicht eines Jugendlichen von der Straße“, schreibt Shalicar in seinem am Mittwoch erscheinenden Buch „100 Weisheiten, um das Leben zu meistern – selbst wenn du aus dem Ghetto stammst“.

Die Lehrerin wollte nur eine Hauptschulempfehlung geben

Als er in der 6. Klasse der Konkordia-Grundschule in Spandau eine Hauptschulempfehlung erhielt, war klar, dass seine Lehrerin nicht annahm, dass aus ihm einmal etwas werden könnte. Seine Eltern schafften es aber, eine Realschulempfehlung herauszuholen.

In den 90ern in Wedding: Shalicar mit erinem Gang-Kumpel.
In den 90ern in Wedding: Shalicar mit erinem Gang-Kumpel.Privat

Shalicars Jugend wurde durch einen weiteren Umstand erschwert: Als Sohn iranischer Juden lernte er den Antisemitismus seiner muslimischen Gang-Kumpels kennen. Im Alter von 14 habe er darüber nachgedacht, welchen Weg er nach Hause von der Schule laufe und an welchem U-Bahnhof er abends nach dem Fußballtraining aussteige, um nicht immer wieder in Schlägereien verwickelt zu werden, bei denen sich immer mehrere auf ihn gestürzt hätten.

Dennoch assimilierte er sich sogar in die muslimische Parallelgesellschaft im Wedding und wurde Bandenmitglied. „Die aggressive Grundeinstellung vieler Jugendlicher ging somit auch auf mich über, und ich war offen für fast jede kriminelle Herausforderung, solange sie mir Respekt auf der Straße und wenn möglich Geld einbrachte. Ich war wie sie. Sprach wie sie. Trug dieselben Klamotten wie sie. Benahm mich wie sie“, schreibt er. „Du hättest mich niemals als Juden identifiziert. Wir waren alles Schwarzköpfe. Muslimische Kids im Ghettobezirk. Ohne Aussicht auf einen anständigen Job. Ohne Hoffnung! Wir hingen so intensiv gemeinsam ab, dass ich mich irgendwann wirklich wie sie fühlte. Wie ein Kanake.“

Um aufzuholen, musste Arye Shalicar dreimal so viel tun

Shalicar schaffte es dennoch, sein Abitur zu machen. Mit 23 konnte er den Hass gegen Juden nicht mehr ertragen. Er wanderte nach Israel aus und verließ nicht nur all die Menschen, die ihn am liebsten umgebracht hätten, weil er Jude ist, sondern auch alle, die ihn geliebt haben.

Er glaubt an Wunder, die man mit harter Arbeit herbeizaubern kann. Um die verlorene Zeit aufzuholen, habe er dreimal mehr Aktivitäten in seinen Tag gestopft als alle anderen. In Jerusalem nahm er ein Studium für Internationale Beziehungen, Nahostgeschichte und Politik auf, das er 2009 mit Auszeichnung abschloss. In Nebenjobs verdiente er Geld, abends belegte er Sprachkurse. Er musste aufholen, Leute kennenlernen, Verbindungen knüpfen.

Inzwischen ist Shalicar Sprecher der IDF-Forces, der israelischen Armee.
Inzwischen ist Shalicar Sprecher der IDF-Forces, der israelischen Armee.BLZ

„Lern, lern, lern!“ lautet denn auch einer seiner hundert Tipps und unterlegt sie mit Beispielen aus seinem Leben. Oder: „Immer wieder aufstehen“. Oder: „Vergib!“. So, wie er es in den vergangenen zwanzig Jahren seinen Weddinger Gang-Kumpels gegenüber getan hat.

Aber an welche Zielgruppe richtet sich sein Buch? Kaum anzunehmen, dass jene Heranwachsenden, für die er diese Tipps schrieb, sich die Arbeit machen, ein 256 Seiten dickes Buch zu lesen. „Zielgruppe sind zum einen Heranwachsende aller Couleur, insbesondere aus den Problembezirken und insbesondere mit Migrationshintergrund“, sagt Arye Sharuz Shalicar. „Aber auch Lehrer und Sozialarbeiter, alle Professionen, die Heranwachsenden helfen. Hätte ich damals mit 18 von einem Buch erfahren, dass jemand geschrieben hat, der Jahre vorher in derselben Scheiße saß, es aber raus schaffte und jetzt Bücher schreibt und Staatsbeamter ist, dann wäre das das einzige Buch, dass ich damals gelesen hätte.“

Am Ende erzählt er von einem Kumpel, der gerade aus dem Knast kam und ihm schrieb, dass er schon früher hätte auf ihn hören sollen, um sein Leben in den Griff zu bekommen.

Im September kam Shalicars Autobiografie „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ als Film in die deutschen Kinos. „100 Weisheiten, um das Leben zu meistern“ erscheint am 13. Oktober im Finanzbuch Verlag, ISBN: 978-3-95972-382-4, 14,99 Euro