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Das 9-Euro-Ticket ist ein Ticket für alle? Von wegen!

Das Schnäppchentickt soll die Menschen bei hohen Energiekosten entlasten. Doch ausgerechnet die Ärmsten können es nicht nutzen – wenn sie keine Papiere haben.

Das 9-Euro-Ticket gibt es noch in diesem August. Um es zu nutzen, braucht man allerdings einen gültigen Ausweis.
Das 9-Euro-Ticket gibt es noch in diesem August. Um es zu nutzen, braucht man allerdings einen gültigen Ausweis.dpa

Zweimal bin ich im Juli mit dem 9-Euro -Ticket Regionalbahn in Brandenburg gefahren: Einmal hinein in meinen Urlaub, einmal hinaus aus meinem Urlaub. Zweimal bin ich in eine Auseinandersetzung mit dem Bahnpersonal getreten. Mit zwei verschiedenen Menschen, aber es ging jedes Mal um das selbe Problem.

Das 9-Euro-Ticket legt offen, dass es verschiedene gesellschaftlichen Positionen gibt, die die Menschen in unserer Klassengesellschaft einnehmen, und dass diese mit unterschiedlichen Privilegien verbunden sind. Dieses Ticket zeigt, dass bei einem Fahrkartenkauf nicht nur der Preis eine Hürde sein kann, sondern auch die soziale Position, aus der heraus der Fahrkartenkauf getätigt wird. Denn das Ticket gilt nur, wenn die Person, die es sich kauft, über ein amtliches Ausweisdokument verfügt.

Das Ticket ist nicht übertragbar, es muss mit einem Namen versehen werden. Nur wer mit einem Dokument die staatlich anerkannte Existenz des Namens auf dem Ticket beweisen kann, darf nach den Regeln eine Fahrt mit seinem Ticket antreten. Nachzulesen ist die Bestimmung in den Beförderungsbedingungen der Deutschen Bahn – aus eigener Initiative, wenn es einem nicht beim Erwerb mitgeteilt wurde.

Wohnungslose haben häufig kein Lichtbilddokument

Abgesehen davon, dass jeder siebte erwachsene Mensch in Deutschland funktionaler Analphabet ist und damit die Bedingungen nicht einfach eigenständig nachlesen kann, leben in Deutschland nicht wenige Menschen, die über kein amtliches Ausweisdokument verfügen. Oftmals sind es Personen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, d.h. die weder die Bestimmung nachlesen, noch sich ausweisen können.

Nach Angaben der Caritas leben 18.000 bis 520.000 Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsgestattung oder Duldung in Deutschland. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat 2020 außerdem 417.000 Menschen ohne Wohnung gezählt. Mit der Wohnungslosigkeit geht häufig, wenn auch nicht zwangsläufig, einher, dass die Menschen auch über kein amtlichen Lichtbildausweis verfügen. Dieses Phänomen lässt sich meist ebenfalls mit mehrfacher Diskriminierung erklären, denn es handelt sich oftmals um Menschen, für die die Hürden, die man überwinden muss, um auf dem Bürgeramt ein solches Dokument zu bekommen, unüberwindbar sind.

Bei meinen zwei Fahrten durch Sachsen hat sich jedes Mal bei der Fahrkartenkontrolle gezeigt, dass das 9-Euro-Ticket keine Fahrkarte für alle ist. Das Bahnpersonal entschied sich dazu, Ausweise zu verlangen, um die Namen auf den Tickets zu überprüfen. Jedes Mal konnten Fahrgäste ihre Namen nicht mit einem Dokument nachweisen.

Die Fahrgäste kauften gemeinsam ein neues Ticket

Für solche Fälle hatte die BAG W (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe) das Personal der Verkehrsbündnisse dazu aufgerufen, Freundlichkeit und Kulanz zu zeigen. Die Verkehrsbetriebe haben die Verantwortung an ihre Mitarbeiter:innen abgegeben, zu entscheiden, ob das Durchsetzen der Regelung angebracht ist oder nicht. Von den jeweiligen Kontrolleur:innen hängt ab, mit welcher Rigorosität sie durchgesetzt wird.

Bei meinen Fahrten entschied sich das Personal jedes Mal, sie mit Härte durchzuziehen. Sie unterstellten den jeweiligen Fahrgästen einen Betrug. Ich hatte die Kraft und die Privilegien, mich einzumischen. Die Fahrgäste mussten kein neues Ticket zahlen und wurden auch nicht von der Bundespolizei von ihrer Fahrt abgehalten. Einmal mischten sich schließlich auch andere ein und kauften gemeinsam ein neues Ticket. Einmal schauten meine Mitreisenden hinter vorgehaltener Hand tuschelnd zu. Ich hörte, wie sie sich völlig verständnislos fragten, wie man denn ohne Krankenversicherungskarte eine Reise antreten könne.

Ein echtes Ticket für alle? Das geht wohl in einem neoliberalen, spätkapitalistischen Land, in dem die Verteilung von Gütern und Privilegien danach orientiert ist, dass die Menschen mit mehr Kapital einen einfacheren Zugriff haben, nicht. Trotzdem können wir in dieser Realität, in der wir nun mal leben, mitentscheiden, wie wir die Gemeinschaft verstehen. Menschen mit den Privilegien müssen mit der nötigen Kraft hinsehen, wenn andere ausgeschlossen und vorgeführt werden. Wir können uns entscheiden, ein 9-Euro-Ticket für alle einzufordern.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.