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Sogar die Hütchenspieler sind weg: Berlins sparsamer Sommer 2022

Familien sind nicht verreist, sondern freuen sich über eine Freifahrt, Touristen sparen: Unser Autor ist Rikschafahrer in Berlin und erlebt den Krisensommer.

Beliebtes Ziel in Berlin: das Brandenburger Tor
Beliebtes Ziel in Berlin: das Brandenburger Torimago/Jochen Tack

Schon vor dem Beginn der Sommerferien ist mir aufgefallen, dass es kein herkömmlicher Sommer in Berlin ist. Zwar sind alle betuchten Berliner wie immer pünktlich zum Ferienbeginn in die Ferne gefahren, aber längst nicht so zahlreich wie sonst. Mir fallen eher die vielen Familien auf, die in der Innenstadt ihre Kleinen durch die Hitze schleppen, die oft müde auf dem Arm der Mutter eingeschlafen sind.

Neulich gestand mir eine Mutter mit einem halbwüchsigen Jungen sehr ehrlich, dass sie kein Geld mehr hätte, weil sie sich ein Paar „Notschuhe“ kaufen musste. Ihre Schuhe waren auf dem Weg kaputtgegangen. Solche Aussagen finde ich bewundernswert, weil die meisten Menschen niemals zugeben würden kein Geld zu haben. Ehrliche Aussagen rühren mich immer an.

Während der Freifahrt erzählte sie, dass sie in Scheidung lebt und nun auf Arbeitssuche ist. Ich fragte den Jungen, wie er die Trennung finden würde, und er meinte nur kurz und knapp: „Klasse!“ Also alles richtig gemacht! So ist ein schnelles Ende eine mutige Entscheidung und meistens für alle Beteiligten besser als eine endlose Qual. Trotz des großen Schmerzes. Da dies nun geklärt und ich mit im Boot war, wurde es eine fröhliche Fahrt zum Alex. Dort wollte Mama erst noch neues Geld holen, weil in der Geldbörse nur noch zwei Euro waren, was nicht einmal für ein Eis gereicht hätte.

Auch Sightseeing-Busse sind schlecht gebucht

Solche Fahrten könnte ich jeden Tag machen, denn das Publikum erweist sich diesen Sommer als äußerst – na, sagen wir mal – sparsam. Man sieht es den Menschen nicht nur an, sondern merkt es auch am Verhalten. Die vielen jungen Menschen befassen sich fast ausschließlich mit dem Posieren für Fotos vor den Sehenswürdigkeiten oder ihrem Handy. Andere laufen ohne einen Blick für andere Menschen durch die Hitze der Stadt. Nur hin und wieder lutscht jemand ein teures Hauptstadteis.

Es fällt auf, dass auch die Sightseeing-Busse schlecht gebucht sind, was aber auch an den verdoppelten Preisen liegen könnte. Und überhaupt, viele Restaurantplätze bleiben leer, ebenso die Plätze auf den Ausflugsdampfern. Sogar die Plage der Hütchenspieler ist vorbei. Auch sie haben aufgegeben und sind wegen des Desinteresses weg – auf Europatour. Eine Sorge weniger.

Aber auch die Rikschas stehen überall unbenutzt herum. Die meisten erfahrenen Fahrer haben sich längst in andere Berufe verdrückt. Übrig geblieben von den Urgesteinen sind nur wenige. Genau genommen sind es nur noch zwei Rikschas, die in unserer hektischen Zeit noch immer ohne Motor fahren und sich nicht dem allgemeinen Druck von Geschwindigkeit ergeben haben. Anstatt durch die Stadt oder den Tiergarten zu rasen, schweben wir durch die Stadt, verlangsamen bewusst das Tempo und können bestenfalls – neben der Stadtführung – einen Hauch vom Charme des echten, übrig gebliebenen Berlin zeigen.

Kennen Sie noch Verkäufer, die Sie gut beraten?

Auch die Kaufhäuser und kleinen Geschäfte sind größtenteils leer. So war ich neulich in der Schuhabteilung von Karstadt am Kudamm der einzige Kunde in der Sportabteilung. Dort begegnete mir ebenso das Urgestein eines Verkäufers.

Kennen Sie noch Schuhverkäufer, die Sie gut beraten? Meiner arbeitete seit 42 Jahren dort und hoffte bis zur Rente in sieben Jahren dort weiterhin arbeiten zu können. Macht dann zusammen 49 Jahre! Die lang gehegten Abrisspläne für das Areal zwischen Kudamm, Augsburger- und Rankestraße scheinen wohl ins Stocken geraten zu sein … Corona sei Dank!

Wer braucht auch schon ein weiteres Shoppingcenter mit leer stehenden Flächen? Wir nicht! Jedenfalls wurde ich von ihm bestens beraten und konnte innerhalb von kürzester Zeit genau die beiden Paar Sportschuhe kaufen, die ich gesucht hatte und benötigte. Der Herr hatte einfach den Blick und die Berufserfahrung, die so einen Einkauf zu einem Fest machen. Von der Menschlichkeit ganz zu schweigen.

Apropos Menschlichkeit. Vielleicht ist es genau das, was auf der Straße so sehr fehlt. Mein Eindruck ist, dass kaum noch jemand fremde Menschen oder seine Umwelt wahrnimmt. Ein Display vor der Nase ist Trumpf. Fußgänger, Radfahrer, Elektroroller, Autos und immer mehr Feuerwehrautos zischen und trompeten durcheinander aneinander vorbei. Ein Wunder, dass es nicht zu ständigen Rempeleien oder gar zu Unfällen kommt.

Abends wird die Natur plattgefeiert

Ist dem Menschen unterdessen ein neuer Sinn, eine Art Sensor für das Umfeld gewachsen? Kann er tatsächlich gehen, ohne hinzusehen, wo er geht? So ist es dann auch kein Wunder, dass so wenig menschliche Kontakte stattfinden oder Geschäfte gemacht werden. Die Menschen laufen wie ferngesteuert den besten Tipps auf dem Handy hinterher. Wie Roboter irren sie durch die Welt, verpassen jedoch sehr oft das Hier und Jetzt. Die kleinen Begebenheiten am Rande des Tages.

Abends wird dann mit mitgebrachten, billigen Getränken die Natur plattgefeiert. Bestenfalls ohne Schlägerei. Aktuell wurde am vergangenen Wochenende von 500.000 Menschen mal wieder der Tiergarten als Toilette benutzt. Yippie yeah. Das ist Berlin. Das ist das pralle Leben. Oder ist es einfach nur der Reflex, heute noch zu feiern, bevor es zu Ende geht mit der Welt? Wiederholen sich die 1920er-Jahre in anderer Form und kommt es wirklich so schlimm, wie es uns täglich prophezeit wird?

Niemand kann wohl sicher vorhersagen, was die Zukunft bringen wird. Aber eines ist sicher: Orthopäden, Physio- und Atemtherapeuten werden in Zukunft gut zu tun haben, um die geschädigten Nacken vom ständigen Schauen auf das Display und die vor Angst hochgezogenen Schultern zu behandeln. Und so bleiben manche Dinge eben doch wie immer. Wo Geld ist, kommt Geld dazu. Das ist ein ewiges Gesetz. Von der Rüstungsindustrie und anderen Großindustrien ganz zu schweigen.

Nur die Berliner bleiben gelassen. Sie decken sich einfach schon mal mit dem Nötigsten ein. Das kennt ein Teil von ihnen noch von früher.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.