Ein schöner Waldweg zieht sich durch den Spandauer Forst. Ein Wasserlauf schlängelt sich neben dem Pfad. Er teilt ein großes, frei zugängliches Wildgehege, in dem Mufflons, Wildschweine und Rehe stehen. Das kleine Gewässer, auf dem zu dieser Jahreszeit die Seerosen blühen, heißt Kuhlake. Es windet sich auch noch hinter dem gut besuchten Gehege in nordwestliche Richtung durch den Mischwald. Dort wird es einsamer auf dem Sandweg.
Etwa einen Kilometer von dem Gehege entfernt steht auf einer Lichtung ein Findling. Die Sonne scheint auf den hellen Stein und lässt die daran befestigte dunkelfarbene Messingplatte hervorstechen. „Wer kann Dich, Herr, verstehen. In Gedenken an Kirsten Sahling“, ist dort neben einem Kreuz eingraviert. Darunter stehen das Geburtsjahr, das Sterbedatum und der Satz: „Du fehlst uns mit Deiner Liebe und Klarheit und wir schöpfen aus Deinem Mut zum Leben.“
Die große Hitze ist vorbei. Trotzdem ist an diesem Sommertag mitten in der Woche kein Jogger zu sehen, kein Radfahrer, kein Spaziergänger, niemand, der mit seinem Hund Gassi geht und der innehält an diesem Gedenkort.
Den Stein ließ Kirsten Sahlings Ehemann direkt gegenüber dreier Birken aufstellen, die am Ufer der Kuhlake stehen. Er erinnert an ein Verbrechen, das 13 Jahre zurückliegt. An dieser Stelle wurde Kirsten Sahling Opfer eines tödlichen Messerangriffs. Es war ein Mord, der in der Hauptstadt wochenlang für Schlagzeilen sorgte, sich damals ins kollektive Bewusstsein der Berliner brannte.
Das hatte seine Gründe: Noch viele Tage nach dem Verbrechen gingen die Leute hier nur mit einem unguten Gefühl spazieren. Jogger mieden den zum Ortsteil Hakenfelde gehörenden Wald, vor allem Frauen. Denn es gibt bis heute keine Antwort auf die Frage nach dem Warum, kein Motiv für die Tat. Und vor allem: Der Täter läuft noch immer frei herum.
Etwa 15 Kilometer von dem Stein entfernt liegt die Keithstraße 30 in Tiergarten. In dem Gebäude hat die Abteilung „Delikte am Menschen“ des Landeskriminalamtes ihren Sitz. Ein kleiner Fahrstuhl, Baujahr 1968, zuckelt nach oben, dorthin, wo die Ermittler der Mordkommissionen ihre Büros haben. Er sei damit noch nie steckengeblieben, sagt Thomas Behle, als er die Tür zum Lift aufstößt.

Behle, ein großer Mann in Jeans und signalgrünem T-Shirt, ist Chef der 7. Mordkommission. Seit 1996 ermittelt der 53-Jährige im Bereich „Delikte am Menschen“, erst im Brandkommissariat, dann bei den Sexualdelikten. Vor vier Jahren wechselte der Erste Kriminalhauptkommissar zur Mordkommission.
Sein Büro ist geräumig und hell: zwei Schreibtische, ein längerer Tisch für Besprechungen. Plakate von „The Police“ und „Depeche Mode“ sowie zwei Flyer mit Zeugenaufrufen zu ungeklärten Mordfällen hängen an den Wänden – ebenso wie eine fast leere Pinnwand.
Immer, wenn Besucher kommen, werden die Fotos ihrer aktuellen Ermittlungen von dieser Pinnwand abgenommen, erklärt Behle. Derzeit bearbeitet sein Team den Fall des Hertha-Fans, der am 19. Mai nach dem Relegationsspiel von Hertha gegen den Hamburger SV niedergeschlagen wurde und gestorben ist. „Auch so ein Fall wie der Mord an Kirsten Sahling, bei dem es jeden hätte treffen können“, sagt der Chefermittler.
Kurz darauf betritt Thomas Bordasch den Raum. Er ist zwei Jahre jünger als Behle. Der Kriminalhauptkommissar ist seit 27 Jahren bei der Mordkommission. Vorsichtig legt er eine Mappe vor sich auf den Besprechungstisch. Seine Handakte, in der die wichtigsten Details über den gewaltsamen Tod von Kirsten Sahling stehen. Bordasch benötigt sie eigentlich nicht, er hat nach all den Jahren die Eckdaten im Kopf. Von Anfang an war er bei den Ermittlungen dabei.
Schon oft haben Behle und Bordasch die Frage beantworten müssen, warum es so schwierig sei, den Mord an Kirsten Sahling aufzuklären. Es gab Zeugen, das Opfer selbst hat noch eine Täterbeschreibung liefern können. Und es existieren sogar Bilder des mutmaßlichen Mörders – aufgenommen von einer Überwachungskamera.
Zu Beginn der Ermittlungen waren sich die Fahnder auch sicher, den Täter schnell fassen zu können. Der damalige Chef der zuständigen Mordkommission rechnete mit drei Tagen. Immerhin lässt sich die Aufklärungsquote der Mordkommissionen durchaus sehen. Sie liegt in Berlin Jahr für Jahr bei mehr als 90 Prozent. Das heißt aber auch, dass einige Fälle ungelöst bleiben. So wie das Verbrechen an Kirsten Sahling.
„Die Frage, warum wir den Mörder bisher nicht ermitteln konnten, ist verständlich“, sagt Thomas Behle, der heutige Leiter der Mordkommission. Der Fall liege aber auch anders als die meisten Delikte von Mord und Totschlag. „Es war keine Beziehungstag, kein Raubmord, kein Verbrechen im Clanmilieu, kein Auftragsmord.“
„Es war ein Zufallstäter“, fügt Thomas Bordasch hinzu. Und ein Zufallsopfer. Bordasch mag diesen Satz, den er nun sagt, eigentlich nicht. Doch in dem Fall trifft er zu: „Kirsten Sahling war zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Das macht die Suche nach dem Mörder so schwierig. Deswegen beißen sich die Ermittler an dem Mordfall seit Jahren die Zähne aus.

Der 20. Juni 2009 ist ein warmer Sommertag. Berlin freut sich auf ein schönes Wochenende. An jenem Sonnabendmorgen verlassen Kirsten Sahling und ihr Mann gemeinsam ihre Wohnung in der Altstadt von Spandau. Sahlings Ehemann will joggen. Sie selbst hat nach einer vor Jahren überstandenen schweren Krebserkrankung Qigong schätzen gelernt, jene chinesische Meditations- und Bewegungsform, die das seelische Gleichgewicht stärken soll. Das Paar hat für seinen Sport keinen festen Ort. Zufällig wählt es an diesem Tag den Spandauer Forst.
Während ihr Mann nach dem Aufwärmen mit dem Laufen beginnt, bleibt die 39-Jährige zurück. Sie macht konzentrierte Atemübungen, bewegt sich dabei wie in Zeitlupe. Es heißt, Qigong bringe die Lebensenergie zum Fließen.
Zu diesem Zeitpunkt sind Kirsten Sahling und ihr Mann schon viele Jahre ein Paar. Die Ehe ist glücklich, Kinder gibt es nicht. Kirsten Sahling ist Psychologin. Seit 2001 arbeitet sie im Benjamin-Franklin-Klinikum der Charité in der Krebsstation. Sie steht Patienten bei, hört sich die Nöte der Angehörigen an, begleitet schwerstkranke Menschen beim Sterben.
Vielleicht lag es an den Konzentrationsübungen, dass Kirsten Sahling an jenem Morgen das Geschehen um sich herum nicht wahrgenommen hat, vermutet Thomas Bordasch. Auch nicht die Joggerin, die gegen 8.45 Uhr an ihr vorbeiläuft, und die für die Mordermittler zu einer wichtigen Zeugin wird. Die Kriminalisten schließen nicht aus, dass es der unbekannte Mörder zunächst auf diese Frau abgesehen hatte.
Der 34-Jährigen war schon von weitem der Mann auf dem Fahrrad aufgefallen, der ihr entgegenkam. Er trug weiße Kleidung, stieg vor ihr von seinem auffallend roten Fahrrad, sah ihr entgegen, ließ sie passieren und schwang sich wieder auf sein Rad – um sie zu verfolgen. So erzählt es die Zeugin später. Den Ermittlern schildert sie, dass sie über eine lange Strecke gehört habe, wie die Fahrradreifen hinter ihr den Sandboden zermahlten. „Warum überholt er nicht?“, dachte sie noch.
Fast einen Kilometer bleibt ihr der Radfahrer auf den Fersen. Das Knirschen der Fahrradreifen endet abrupt, als die Joggerin an einer in sich gekehrten Frau vorbeiläuft, die eine Art Schattenboxen vollführt – Kirsten Sahling.
Was dann geschah, schildert Thomas Bordasch so: Der unbekannte Radler ist offenbar bei Kirsten Sahling stehen geblieben. Der Rechtshänder zieht ein scharfes Messer und sticht damit immer wieder auf sein Opfer ein.
In Medienberichten von damals ist von fünf Messerstichen die Rede. Das stimme nicht ganz, erklärt Bordasch. Er spricht von „mehreren Stichen in den Oberkörper“. Die genaue Zahl will er nicht nennen. „Täterwissen“, sagt er zur Begründung. Vielleicht gelingt es ja doch noch, den Mörder zu ermitteln. Dann soll er nicht alles aus der Zeitung wissen.
Das Messer hat die Aorta getroffen
Kirsten Sahling bricht zusammen. Der Täter fährt mit seinem Rad in Richtung Schönwalder Allee davon, vorbei an einem Jogger, der kurz darauf auf die schwerverletzte Frau stößt. Er alarmiert einen Notarztwagen und die Polizei. Eine Frau kommt hinzu, auch sie ist im Wald gelaufen. Sie kümmert sich um die Sterbende.
Noch ist Kirsten Sahling bei Bewusstsein. Sie verliert viel Blut. Ein Stich hat die Aorta getroffen, die Kräfte schwinden. Die Psychologin kann den Helfern noch sagen, dass ihr Ehemann in der Nähe sein müsse. Und sie beschreibt den Täter: sehr jung, vielleicht 15 bis 20 Jahre alt, mittelblonde Haare, etwa 1,75 Meter groß, gepflegtes Äußeres. Mit einem knallroten Rad sei er unterwegs gewesen. Er habe weiße Kleidung getragen und kein Wort gesagt. Der Mann sei ihr fremd gewesen.
Dann wird die Schwerverletzte bewusstlos. Im Krankenhaus können ihr die Ärzte nicht mehr helfen. Kirsten Sahling verblutet innerlich. Am Mittag stirbt sie an ihren schweren Stichverletzungen.
Einen Tag später durchkämmen 50 Polizisten das Waldgebiet, sie suchen nach Spuren des Täters, nach der Tatwaffe. Das Messer, mit dem die 39-Jährige niedergestochen wurde, bleibt verschwunden. DNA-Spuren vom Täter gibt es nicht. „Reifenspuren auf dem Weg, auf dem sich viele Menschen um Kirsten Sahling gekümmert haben, konnten wir auch vergessen“, sagt Bordasch. Mehr als 20 Hinweise gehen zunächst bei der Polizei ein. Nichts ist dabei, was den Ermittlern weiterhelfen könnte.

Die Familie, Freunde, Kollegen, Angehörige von Patienten der Krebsstation werden überprüft – das gehört zur Routine. Der Ehemann kann sehr schnell als Täter ausgeschlossen werden. Freundschaften pflegte Kirsten Sahling nur wenige. Bei ihren Patienten und Kollegen war die Psychologin angesehen und beliebt. Es gab niemanden, der einen Groll gegen sie hegte. „Für diese Tat gibt es einfach kein Motiv“, erzählt Chefermittler Behle. Er fragt sich oft, was das auslösende Moment für dieses Verbrechen gewesen sein könnte. „Vielleicht wollte der Täter aber auch nur einfach mal einen Menschen sterben sehen.“
Immerhin können die Kriminalisten den Fluchtweg des Mörders rekonstruieren. Die Aufnahmen von nahegelegenen Überwachungskameras werden überprüft. Dabei stoßen die Fahnder auf eine Anlage, die zum evangelischen Johannisstift gehört. Die soziale Einrichtung an der Schönwalder Allee beherbergt auf ihrem 75 Hektar großen Gelände Wohnstätten für Senioren, behinderte Menschen, aber auch für schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche. Zwei Eingänge hat das Anwesen: an der Schönwalder Allee am südwestlichen Teil des Areals und im Südosten an der Wichernstraße.
Die Kamera mit der Nummer drei der acht Jahre alten Videoanlage nimmt am Tattag um 8.50 Uhr schemenhaft einen Radfahrer in sehr heller Bekleidung auf, der offenbar zielgerichtet die Einfahrt zum Johannisstift ansteuert. Die Schwarz-weiß-Aufnahme ist unscharf. Trotzdem sind sich die Ermittler sicher, dass der Mann auf der Aufnahme der Mörder von Kirsten Sahling ist.
„Weder die Qualität noch die Quantität bei Überwachungskameras waren damals besonders gut“, sagt Thomas Behle. Die Fahnder gehen davon an, dass der Unbekannte entweder zum Johannisstift gehört oder zumindest sehr gute Ortskenntnisse besitzt und das Gelände am anderen Eingang an der Wichernstraße wieder verlassen hat. Auch dort hängt eine Kamera. Doch die Ermittler haben Pech. Die Kamera ist defekt.
5000 Euro Belohnung ausgesetzt
Videoermittlungen sind ein wichtiges Thema. Stets müssen sich die Fahnder beeilen, um an mögliche Aufnahmen zu gelangen. Nur 48 Stunden darf das Material gespeichert werden. „Das ist für uns sehr wenig Zeit. Wünschenswert wären zwei Wochen“, erklärt Behle. Doch mit seiner Forderung beißt der Chef der 7. Mordkommission bisher auf Granit.
Er kennt die Argumente der Kritiker von Überwachung des öffentlichen Raums. Kameras würden keine Taten verhindern, heißt es. „Woher will man das wissen. Wer macht Prävention messbar?“, fragt Behle. Für die Aufklärung schwerer Straftaten seien die Aufnahmen aus den Kameras überaus wertvoll. Oftmals hätten sich Täter gestellt, nachdem ihr Foto veröffentlicht worden sei, sagt Behle.
Aber nicht im Mordfall Kirsten Sahling. Zehn Tage nach der Bluttat im Spandauer Forst gehen die Ermittler mit den qualitativ schlechten Bildern der Überwachungskamera an die Öffentlichkeit. Zusätzlich setzt die Staatsanwaltschaft eine Belohnung in Höhe von 5000 Euro aus. Die Ermittler haben das Alter des Gesuchten hochgesetzt. Jetzt wird ein junger Mann zwischen 15 und 25 Jahre gesucht. „Manchmal sehen auch Männer mit Mitte 20 wie Jugendliche aus“, erklärt Bordasch.

Eine Woche später hat sich die Zahl der Hinweise auf 400 erhöht. Eine heiße Spur ist nicht darunter. „Wir sind damals mit wechselnden Fahrradtypen durch das Bild der Videokamera gefahren, um wenigstens sagen zu können, was das für ein Fahrrad gewesen sein könnte“, erinnert sich Bordasch. Auch das habe sie nicht weitergebracht.
Der Ermittlungsaufwand wenige Tage nach der Tat ist enorm. Ein nahegelegenes Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen werden überprüft, weil die Kriminalisten nicht ausschließen können, dass es sich bei dem weiß gekleideten Täter vielleicht um einen Pfleger handeln könnte. Doch auch diese Arbeit erweist sich als Sackgasse. Ebenso wie die Überprüfung Tausender junger Männer mit helleren Haaren, die in Hakenfelde leben oder arbeiten.
Polizei erhielt mehr als 1000 Hinweise
Eine Faustregel bei der Polizei besagt: Steht der Täter in einem Mordfall nicht nach einer Woche fest, werden die Ermittlungen schwierig. Denn schon wenige Tage nach der Tat verblasst das Erinnerungsvermögen von Zeugen. Später widersprechen sie sogar teilweise ihren eigenen Aussagen. Wie die Zeugin, die zunächst von dem Radfahrer verfolgt wurde. Auch sie hatte zunächst von einem jungen Mann mit hellen Haaren gesprochen. „Später, als wir schon viele Menschen überprüft hatten, war sie sich nicht mehr sicher“, erzählt Bordasch. Sie habe gesagt, dass der Radfahrer auch dunklere Haare gehabt haben könnte.
Mehr als 1000 Hinweisen ist die 7. Mordkommission bisher in dem Fall nachgegangen. Bei jedem ähnlich gelagerten Fall in Deutschland wurden die Fahnder hellhörig. „Im Lichte des Bekannten wartest du auf eine Doublette“, sagt der Chef der 7. Mordkommission.



