Die Summe ist riesig, und wenn der Vorwurf stimmt, dann sind die Taten, die den beiden Angeklagten vorgeworfen werden, dreist. Kemal C. soll an 18 verschiedenen Standorten in Berlin Corona-Testzentren betrieben und Tests abgerechnet haben, die nicht oder nicht in dem von ihm angegebenen Umfang erfolgt sind. Dadurch, so der Vorwurf von Oberstaatsanwalt Thomas Gritscher, habe der 46-jährige Geschäftsmann den Staat betrogen – um rund 9,7 Millionen Euro innerhalb von zehn Monaten.
Im Prozess, der am Montag vor dem Landgericht Berlin begann, geht es um Betrug in besonders schwerem Fall. Kemal C. habe bei der Registrierung der Testzentren auch andere Namen zum Verschleiern seiner eigenen Verantwortlichkeit genutzt, sagt der Oberstaatsanwalt.
Kemal C. sitzt seit Ende März in Untersuchungshaft. Seine Schwester Gülbeyaz W. wurde vor zwei Monaten von der Untersuchungshaft verschont. Die 44-Jährige ist mit angeklagt. Sie soll ihrem Bruder bei dem Betrug geholfen haben, indem sie ihre Personalien bei der Registrierung und Abrechnung der Testzentren sowie ihr Konto zur Verfügung gestellt habe. Insgesamt soll sie durch ihre Taten einen Betrag von 2,5 Millionen Euro erlangt haben.
Die Liste, die Oberstaatsanwalt Gritscher in seiner Anklage verliest, ist lang. Insgesamt geht es um 67 Taten – und Beträge, die der Angeklagte zwischen Mai 2021 und Februar dieses Jahres bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) abgerechnet haben soll.
Die Beträge sind durchaus beachtenswert: Selten sind es unter 50.000 Euro. Die höchste Summe, die Gritscher in seiner Anklage nennt, ist vom Juni vergangenen Jahres. Damals sollen 1.094.988,47 Euro von der KV gefordert und im August auch in dieser Höhe ausgezahlt worden sein.
Wie aus der Anklage hervorgeht, wurden insgesamt 15 der 67 Rechnungen in der beantragten Höhe beglichen. Bei den restlichen Zahlungsaufforderungen machte die Kassenärztliche Vereinigung Abstriche. Laut Anklage wurden beispielsweise von abgerechneten 331.584,96 Euro „nur“ 255.154,62 Euro gezahlt.
Oberstaatsanwalt Gritscher benennt in seiner Anklage auch, wo ein Großteil des vermeintlich unrechtmäßig erlangten Geldes geblieben ist. So sind nach seinen Worten rund 6,6 Millionen Euro in die Türkei weitergeleitet worden – auf ein Konto, das offenbar dem Vater des angeklagten Geschwisterpaares gehört.
Gülbeyaz W. will sich vorerst nicht zu den Vorwürfen äußern, wie ihr Anwalt vor Gericht sagt. Und auch der Hauptangeklagte Kemal C. lässt an diesem ersten Verhandlungstag nur seinen Verteidiger sprechen. Dafür etwas umfangreicher.
Anwalt Thomas Baumeyer bestreitet in der Erklärung seines Mandanten den Vorwurf „mit Nachdruck“, Kemal C. habe zur Verschleierung seiner Verantwortung andere Mitbeteiligte als Betreiber von Corona-Testzentren genannt. Zudem erklärt Baumeyer, sein Mandant habe nur zwei Testzentren betrieben. Eines in der Badstraße in Wedding und eines in der Buddestraße in Tegel. Ab Februar dieses Jahres sei es gar nur noch das Testzentrum in der Badstraße gewesen.
Der Verteidiger wirft zudem dem Staat vor, in „ganz erheblicher Weise versagt“ zu haben. Der Staat habe die notwendige Kontroll- und Überwachungsfunktion „in eklatanter Art“ vernachlässigt. „Und zwar unabhängig davon, ob mein Mandant schuldig ist oder nicht“, sagt Baumeyer. Aus seiner Sicht wären solche Taten ohne dieses Versagen überhaupt nicht möglich gewesen.
Verteidiger erklärt, sein Mandant sei „weitestgehend unschuldig“
In seiner Erklärung zitiert der Verteidiger von Kemal C. Oberstaatsanwalt Gritscher, der in dem Verfahren die Anklage vertritt. Gritscher hatte sich erst vor wenigen Tagen in einem Beitrag zum Betrug mit Corona-Testzentren geäußert: Wenn der Staat es den Tätern dermaßen leicht mache, „braucht es nicht viel kriminelle Energie, um diese Gelder zu erlangen“, sagte er demnach.
In einer Prozesspause erklärt der Verteidiger, das umfangreiche Verfahren werde ergeben, dass sein Mandant „weitestgehend unschuldig“ sei. Weil Kemal C. keinen Betrug begangen habe. Am nächsten Verhandlungstag wolle sich sein Mandant noch einmal umfangreicher einlassen.
Auch Oberstaatsanwalt Thomas Gritscher äußert sich zu einem möglichen staatlichen Versagen. Nach seinen Worten sind die Verantwortlichkeiten durchaus ein wichtiges Thema in diesem Verfahren, das möglicherweise auch auf die Strafzumessung Auswirkungen haben wird.
Die Testzentren, um die es in dem Verfahren geht, waren meist in Spätverkaufsstellen eingerichtet. Ein Zeuge, der in einem dieser Spätis als Verkäufer arbeitet, berichtet vor Gericht, dass es im hinteren Teil des in der Badstraße gelegenen Ladens wirklich ein Testzentrum gegeben habe. Schlange gestanden hätten die Menschen dort nicht, antwortet der 56-Jährige auf eine entsprechende Frage des Vorsitzenden Richters. Nebenan bei der Apotheke habe es dagegen einen großen Zulauf gegeben, „aber zu uns wollte niemand“.



