Berliner Geschichte

Chausseestraße: Wie frühe Berliner Start-ups vor 140 Jahren erfolgreich wurden

Schon im 19. Jahrhundert war Berlin eine der spannendsten Städte der Welt. Vom damaligen Boom zeugt ein Buch, welches gerade erschienen ist.

Die Chausseestraße und die ganz frühen Berliner Start-ups
Die Chausseestraße und die ganz frühen Berliner Start-upsBerliner Zeitung/Markus Wächter

Haben Sie schon einmal von der Silicon Allee in Berlin gehört? Manche Leute aus der Start-up-Szene nennen die Chausseestraße so. Wirklich durchgesetzt hat sich der Kunstname nicht, zumal der große Boom der kreativen Tech-Unternehmen an der Chausseestraße eher in den Nuller- und Zehnerjahren unseres Jahrhunderts lag. Seither sind auch hier die Mieten in Regionen gestiegen, die junge Unternehmensgründer sich nicht leisten können oder wollen.

Nur ein paar Häuser die Straße hoch, in der Nummer 19, residiert allerdings seit 2011 ein Firmencampus mit ebendiesem Namen: Silicon Allee. Die Netzwerker widmen sich nach eigener Darstellung erfolgreich der Entwicklung und Verknüpfung der Berliner Tech-Community. Sie vermitteln Kontakte, Konzepte, Jobs, Mitgründer, Kapitalgeber, Büros, PR und guten Rat. Wenn der digitale Nomade eine Zeit lang sesshaft werden möchte, geht das hier auch: In der obersten Etage stehen edel möblierte Apartments zur Verfügung, auf dem hier üblichen Mietniveau, also alles andere als günstig. Dafür aber „in the heart of Berlin’s tech and innovation district“, wie es auf der Website heißt.

Nur wenige, die sich in dieser Szene bewegen, wissen, dass sie auf den Spuren bedeutender Vorgänger wandeln, die zum Teil in denselben Räumen gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit genialen Erfindungen, Mut und Zukunftsglauben Unternehmen gründeten, deren Namen bis heute nachklingen.

Hier wurden die ersten deutschen Glühlampen gefertigt

Davon künden zum Beispiel die 1880 errichteten Edison-Höfe, die gleich um die Ecke die Schlegel- und die Invalidenstraße miteinander verbinden. Hier gründete 1883 der Ingenieur Emil Rathenau die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität, nachdem er von dem Amerikaner Thomas Edison die Patente für den Bau der elektrischen Glühlampe erworben hatte. In einem der Hinterhofgebäude mit den heute fein sanierten gelb-roten Klinkerfassaden begann die Produktion der ersten deutschen Glühbirnen, die weit mehr als 100 Jahre Licht in die Dunkelheit brachten, bis sie von Halogen- und LED-Leuchtkörpern abgelöst wurden.

Bis 1905 lief die Produktion von Birnen, Glühfäden, Fassungen, Sicherungen und Dynamos an diesem Standort. Zu der Zeit war aus Rathenaus Edison-Gesellschaft längst die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) geworden und Emil Rathenaus Sohn Walther einer der einflussreichsten deutschen Industriellen mit erheblichen politischen Ambitionen. 1921 berief ihn Reichskanzler Joseph Wirth in seine Regierung, 1922 wurde er Außenminister und handelte einen Aussöhnungsvertrag mit der Sowjetunion aus. Wenig später wurde er von Rechtextremisten ermordet.

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Buch und Lesungen
Holger Schmales Buch „Chausseestraße – Berliner Geschichte im Brennglas“ ist soeben im Ch. Links Verlag erschienen (224 Seiten, 25 Euro).

Buchpremiere – mit Holger Schmale im Gespräch mit Marion Brasch – ist am Mittwoch, 10.4., um 18 Uhr im Literaturforum im Brecht-Haus (Chausseestraße 125). Die Veranstaltung ist ausverkauft, aber es gibt einen Livestream.

Eine weitere Lesung mit Holger Schmale findet am Dienstag, 19.4., um 20 Uhr in der Stadtbibliothek Berlin-Mitte (Brunnenstraße 181) statt. Eintritt frei.

Die AEG wuchs zu einem Weltunternehmen mit bis zu 200.000 Beschäftigten und einer Produktpalette, die zeitweilig vom Kerngeschäft mit der „weißen Ware“, Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen, Kochherden und Kühlschränken, über die von Eduard Schüller für AEG erfundenen Magnettonbandgeräte bis hin zu Rüstungsgütern und Kraftwerken reichte. Durch Missmanagement geriet die AEG in den 1980er-Jahren in Schieflage, wurde zeitweise  von einem anderen Traditionsunternehmen, Mercedes-Benz, übernommen und 1996, genau 113 Jahre nach ihrer Gründung, wegen Insolvenz aufgelöst. Die Marke allerdings existiert bis heute. Das schwedische Unternehmen Electrolux hat die Lizenzen erworben und nutzt den immer noch prominenten Namen. Der alte AEG-Slogan „Aus Erfahrung gut“, für Jahrzehnte einer der gängigsten Werbesprüche in Westdeutschland, funktioniert noch immer.

Die Edison-Höfe: Sparkasse, Uni-Bibliothek, Gastronomie, Jazz

Die historischen Gebäude der Edison-Höfe haben Krieg, Zerstörung und Verwahrlosung in der Substanz gut überstanden. Ab 2001 wurden sie saniert und erhielten knapp zehn Jahre später einen ansehnlichen Vorbau auf einer vormaligen Kriegsbrache an der Invalidenstraße. Heute gehören sie der Sparkassentochter Deka, die sie als „Mix aus sanierten Industrie- und Neubauten“ mit einer Nutzfläche von 26.000 Quadratmetern vermarktet. Büros, Wohnungen, auch ein wenig Gastronomie bringen Leben in die Höfe. Leerstand ist in den Edison-Höfen schon seit langer Zeit ein Fremdwort.

Zur bunten Mischung trägt die Humboldt-Universität mit ihrem Institut für Asien- und Afrikawissenschaften bei, das hier seine Spezialbibliothek unterhält. Und in einem der Kellergewölbe findet sich die Kunstfabrik Schlot, einer der führenden Jazzclubs in der Hauptstadt. Dazu kommen ein vielseitiges Angebot für Kinder und Jugendliche in Zusammenarbeit mit Musikschulen, Lesungen und Filmabende. Als seine Philosophie benennt das Schlot: „Kultur vor Kommerz“, ein in dieser kommerziell geprägten Umgebung besonderes Alleinstellungsmerkmal.

Die Grüne Apotheke
Die Grüne ApothekeSchering Archiv

Ernst Scherings Grüne Apotheke, Chausseestraße 17, 1851

Eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie Emil Rathenau hat auch ein zweiter früher Gründer an der Chausseestraße zu bieten, nur finden sich von ihm hier keine Spuren mehr. Nach einer Apothekerlehre und Wanderjahren als Gehilfe studierte Ernst Schering in Berlin Pharmazie und übernahm 1851 als „Apotheker 1. Klasse“ in der Chausseestraße 17 eine Apotheke. Im selben Haus bezog er mit seiner Familie eine Wohnung. Wegen seiner Begeisterung für Naturprodukte nannte er sein Geschäft programmatisch „Grüne Apotheke“, ungefähr 140 Jahre bevor „grün“ zu einem allgemein anerkannten Qualitätsmerkmal wurde. In der Nachbarschaft der großen Maschinenbaubetriebe von August Borsig und Ludwig Schwartzkopff hatte sie in deren Arbeitern eine zuverlässige Kundschaft und bot damit die wirtschaftliche Grundlage für Scherings Pläne, dem mehr vorschwebte, als herkömmliche Pillen und Salben zu verkaufen.

Schering hatte das Ziel einer sauberen Chemie

Er verfolgte das Konzept einer „sauberen Chemie“ und entwickelte in seinem kleinen Labor hinter dem Apothekenladen Chemikalien von größter Reinheit, die die Gesundheit ihrer Nutzer nicht belasten sollten. Er präsentierte sie auf der Pariser Weltausstellung und kehrte preisgekrönt heim. Mit seinen Produkten belieferte er die Parfümerie-, Textil-, Leder-, Seifen- und Feuerwerksindustrie und legte so die Grundlage für den Aufstieg zu einem Weltkonzern, der Schering AG.

Während sein Sohn Richard die Apotheke weiterführte und dafür eine Straßenecke weiter, an der Zinnowitzer Straße, ein prächtiges, im Krieg zerstörtes, Wohn- und Geschäftshaus bauen ließ, gründete Ernst Schering 1864 die Chemische Fabrik Ernst Schering und kaufte dafür ein Grundstück an der Müllerstraße, der Weddinger Verlängerung der Chausseestraße. Dort befinden sich bis heute Produktionsstätten des Pharmakonzerns Bayer AG, der 2006 die Schering AG übernommen hat. Zu dem Zeitpunkt beschäftigte Schering weltweit 25.000 Mitarbeiter.

Das in Adlershof liegende weitere Werk war unter dem Namen Berlin Chemie in der DDR verstaatlicht worden, wurde 1992 von einem italienischen Pharmakonzern übernommen und produziert bis heute unter diesem Namen Arzneimittel. Der Name „Grüne Apotheke“ lebt auch weiter – in Berlin führen allein drei Apotheken diesen Titel.

Einmal quer über die Chausseestraße findet sich in der Nummer 117 ein Ort, durch den seit mehr als 100 Jahren immer wieder neuer Gründergeist wehte. Die Aktiengesellschaft für Automobilunternehmungen ließ dort 1913/14 ein Wohn- und Geschäftshaus mit zwei geschlossenen Höfen errichten, das mit seiner neoklassizistischen Fassade bis heute das Straßenbild prägt.

Das erste Parkhaus für Autos

Am Attikageschoss thronen vier Figuren, von denen die äußerste linke den Sinn der Bauherren für Humor beweist: Sie hält ein Auto auf dem Schoß. Denn im Hof entstand die erste Berliner Hochgarage, was wiederum auf Gründer mit Zukunftsfantasie schließen lässt – nämlich der Vorstellung, dass der Autoverkehr binnen weniger Jahre zu einem Massenphänomen mit einhergehenden Parkplatznöten werden würde. Während die 15 Jahre später errichteten Kant-Garagen in Charlottenburg den Ruhm der ältesten erhaltenen Etagen-Autounterkunft für sich in Anspruch nehmen können, stand hier die Geburtsstätte des Parkhauses. Das Landesdenkmalamt verweist daher auf den besonderen stadt- und verkehrsgeschichtlichen Stellenwert des Komplexes.

Bei der jüngsten Renovierung des zweiten Hofgebäudes vor dem Einzug des schwedischen Zahlungsdienstleisters Klarna 2020 wurde ein letzter Hinweis auf die Garage freigelegt: der Schriftzug „Achtung Kraftwagenführer: Motor ausschalten“ auf einem Deckenträger in der ersten Etage.

Klarna reiht sich in die Tradition der hier über die Jahrzehnte ansässigen innovativen Firmen bestens ein. Der 2005 entstandene schwedische Finanzdienstleister hat mit seinem Konzept zur Abwicklung von Online-Käufen eine bedeutende Marktstellung im Bereich Finanzdienstleistungen erreicht. Die Niederlassung in der Chausseestraße mit 500 Mitarbeitern ist die größte nach der Zentrale in Stockholm.

Die Werkstatt der deutschen Chiffriermaschine Enigma lag im vierten Stock

Viele Jahrzehnte zuvor beherbergten die Höfe der Chausseestraße 117 ein Hightech-Unternehmen ganz anderer Art. Seit dem Jahr 1930, vor allem aber während des Zweiten Weltkriegs, baute hier die Firma Konski & Krüger (K&K) die legendäre Chiffriermaschine Enigma, mit der vor allem die Wehrmacht ihre geheime Kommunikation abwickelte. Insgesamt wurden etwa 40.000 dieser Maschinen hergestellt, das wichtigste Fertigungswerk war K&K in der Chausseestraße.

Im vierten Stock des zweiten Hofgebäudes gab es einen besonders gesicherten Bereich, in dem die Verdrahtung der Enigma-Walzen sowie die Endkontrollen vorgenommen wurden. Nur eine kleine Zahl besonders vertrauenswürdiger Experten hatte Zutritt. Man fürchtete Sabotage der kriegswichtigen Geräte. Vielen Mitarbeitern blieb die Einberufung an die Front erspart, weil sie als unverzichtbar für die Produktion galten.

Kreativer Aufbruchsgeist herrschte Anfang des 20. Jahrhunderts auch wenige Häuser weiter in den Höfen des ansehnlichen Wohn- und Geschäftshauses Chausseestraße 123 mit seiner roten Sandsteinfassade und schmiedeeisernen Jugendstilelementen. Die Deutsche Bioscope-GmbH, eine der ersten deutschen Filmproduktionsfirmen, bezog 1907 ein Fotoatelier mit gläsernem Dach in der obersten Etage des Hofgebäudes.

Für die Filmproduktionen wurde das Atelier auf 132 Quadratmeter vergrößert. Unter der Leitung des Filmpioniers und Kameramanns Guido Seeber entstanden hier der Spielfilm „Schuld und Sühne“ mit Henny Porten und acht Filme mit der legendären Asta Nielsen. Als Bioscope 1911 nach Babelsberg zog und dort die Keimzelle der Ufa wurde, übernahm die neu gegründete Continental-Kunstfilm GmbH das Studio und produzierte Mitte 1912, nur wenige Wochen nach dem Untergang der Titanic, unter dem Titel „In Nacht und Eis“ den ersten Spielfilm über die Schiffskatastrophe.

Die Wasseraufnahmen entstanden auf dem Krüpelsee bei Königs Wusterhausen. Für die Darstellung der Innenszenen errichtete man im Hinterhof der Chausseestraße auf einer Kippbühne schwankende Kulissen, um den Wellengang auf See und Erschütterungen unter Deck zu simulieren.

Bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs nutzten diverse Filmproduktionen das Studio. Auch der junge Ernst Lubitsch drehte in der Chausseestraße, wiederum mit Asta Nielsen.