Die allermeisten Menschen genesen nach Infektionskrankheiten ohne weitere Folgen. Andere fühlen sich noch wochen- oder monatelang erschöpft und krank. Ins Rampenlicht gerückt sind solche Zustände in letzter Zeit vor allem durch Corona. Man spricht vom Post-Covid-Syndrom, wenn die Symptome mehr als zwölf Wochen anhalten. Davon könnten etwa zwei Prozent aller an Covid-19 Erkrankten betroffen sein, wie die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) schätzt.
„Bekannt sind Langzeitfolgen nach Infektionen bereits seit vielen Jahren“, heißt es in einer Mitteilung der Berliner Charité. „Erforscht sind sie kaum.“ Dabei können sie bis zu einer „schwerwiegenden, meist lebenslang andauernden Erkrankung mit unterschiedlich ausgeprägten körperlichen und geistigen Symptomen führen“, die bisher in Deutschland ebenfalls nur wenig erforscht ist. Man spricht vom Chronischen Fatigue-Syndrom ME/CFS, einer neuroimmunologischen Langzeiterkrankung.
Eine neue Berliner Studie zeigt nun, dass ein Teil der Covid-19-Erkrankten auch nach mildem Verlauf tatsächlich das Vollbild einer ME/CFS-Erkrankung entwickeln kann. Ein Forscherteam untersuchte an der Charité 42 Menschen, die mindestens sechs Monate nach ihrer Corona-Infektion noch immer stark an krankhafter Erschöpfung und eingeschränkter Belastungsfähigkeit im Alltag litten. „Die meisten von ihnen konnten lediglich zwei bis vier Stunden am Tag einer leichten Beschäftigung nachgehen, einige waren arbeitsunfähig und konnten sich kaum noch selbst versorgen“, heißt es in der Mitteilung der Berliner Charité und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC).
Zwei Gruppen mit unterschiedlich ausgeprägter „Belastungsintoleranz“
Von den 42 Betroffenen hatten drei wegen Covid-19 ein Krankenhaus aufgesucht, aber keine Sauerstoffgabe benötigt. 32 waren nach der WHO-Klassifizierung nur „mild“ erkrankt, hatten zwar meist stärkere Symptome gehabt, aber keine Lungenentzündung. Geimpft war niemand, denn die Erkrankungen betrafen die erste Welle der Pandemie 2020.
Etwa die Hälfte der 42 Untersuchten entwickelte eine voll ausgeprägte ME/CFS-Erkrankung. Die andere Hälfte litt zwar auch unter „stark reduzierter Belastbarkeit“. Bei ihr war aber das Kernsymptom von ME/CFS nicht so stark ausgeprägt: die sogenannte Postexertionelle Malaise (PEM) oder „Belastungsintoleranz“, von den Betroffenen oft „Crashs“ genannt.
Gemeint ist, dass eine Verschlechterung der Krankheit bereits nach geringfügigen körperlicher oder seelischer Belastungen eintritt, etwa einem Einkauf, einem Spaziergang, einem Gespräch, Lesen oder Duschen. Das passiert oft zeitverzögert bis zu 48 Stunden nach einer Belastung. „Crashs“ könnten Tage, Wochen, Monate, schlimmstenfalls dauerhaft anhalten, schreibt die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS. Bei schwerem Verlauf könne bereits das Umdrehen im Bett zu einem „Crash“ führen.
Die Wissenschaftler fanden also zwei Gruppen – mit unterschiedlich ausgeprägter „Belastungsintoleranz“. Sie nahmen weitere Untersuchungen vor, verglichen zum Beispiel die Kraft der Muskulatur mittels Handkraft-Messungen und ermittelten die verschiedene Laborwerte. Bei der Gruppe mit den nicht so ausgeprägten „Crashs“ vermuten sie „eine anhaltende Entzündungsreaktion“ als Ursache ihrer Beschwerden. Denn sie maßen dort einen erhöhten Spiegel des Immunbotenstoffs Interleukin-8.
Bei der Gruppe, die unter dem Vollbild von ME/CFS litt, vermuten sie, dass „eine verminderte Durchblutung für die Muskelschwäche verantwortlich“ sein könnte. Denn sie maßen ein bestimmtes Hormon, das von Muskelzellen bei zu schlechter Sauerstoffversorgung ausgeschüttet wird.
Neues Netzwerk IMMME will Ursachen auf die Spur kommen
Die Unterscheidung beider Gruppen könnte sich auch im Krankheitsverlauf widerspiegeln. „Bei vielen Menschen, die ME/CFS-ähnliche Symptome haben, aber nicht das Vollbild der Erkrankung entwickeln, scheinen sich die Beschwerden langfristig zu verbessern“, sagte Carmen Scheibenbogen, kommissarische Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie an der Charité und eine der Leiterinnen der Studie. Die Daten lieferten „einen weiteren Beleg dafür, dass es sich bei ME/CFS nicht um eine psychosomatische, sondern um eine schwerwiegende körperliche Erkrankung handelt, die man mit objektiven Untersuchungsmethoden erfassen kann“, so Scheibenbogen.
Bisher gibt es keine eindeutige Diagnostik und auch keine Therapien gegen ME/CFS, obwohl in Deutschland bereits vor Pandemiebeginn etwa 300.000 Menschen davon betroffen waren, wie Experten schätzen, davon etwa 40.000 unter 18-Jährige. „Etwa die Hälfte der überwiegend jüngeren und weiblichen Patienten ist so krank, dass sie nicht mehr arbeiten kann“, so die Charité. „Schwerstbetroffene sind bettlägerig und nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen.“ Zu den häufigsten Symptomen gehörten Schwäche und Erschöpfung (Fatigue), Muskel- und Kopfschmerzen, Darmbeschwerden, Schwindel, Stress- und Reizempfindlichkeit, Herzrasen und Blutdruckschwankungen.
Wie kann es nun zur Krankheit ME/CFS kommen? Ein neues Forschungsnetzwerk unter Leitung der Charité will den Mechanismen auf die Spur kommen. Es trägt den Namen IMMME (IMune Mechanism of ME). Ihm gehören neben der Charité auch Wissenschaftler aus Lübeck, Bonn, Würzburg und München an. Vom Bundesforschungsministerium wird es in den kommenden drei Jahren mit rund zwei Millionen Euro gefördert.
Biomarker sollen Ärzten bei der Diagnose helfen
Bei der Mehrzahl der Patientinnen und Patienten beginnt die Krankheit nach einer Infektion, etwa mit Herpesviren wie dem Epstein-Barr-Virus, mit Dengue- oder Influenza-Viren. Auch bei der Sars-Pandemie von 2002 und 2003 hatte laut Charité bereits ein Teil der Erkrankten ME/CFS entwickelt. „Jüngste Studien weisen auf autoimmune Prozesse und eine Fehlregulation des vegetativen Nervensystems sowie des zellulären Energiestoffwechsels hin“, schreibt die Charité. Aber noch immer fehlten verlässliche Biomarker, also messbare Werte in Blut oder Serum, die zur Diagnose der Erkrankung eingesetzt werden können. Das wollen die Wissenschaftler des IMMME-Netzwerks ändern.
Eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von ME/CFS sollen Autoantikörper spielen, die beim gesunden Menschen zur Steuerung von wichtigen Vorgängen beitragen. Nach Infektionen können sie ihre Funktion ändern und zur Entwicklung von Autoimmunerkrankungen führen. Die Wissenschaftler um Carmen Scheibenbogen haben im Fall von ME/CFS bereits bestimmte Autoantikörper im Blick.
Ihre Hypothese ist laut Charité: „Einige der Autoantikörper sind in ihrer Struktur verändert und binden so an bestimmte Rezeptoren, dass Fehlinformationen in den Zellen zu Fehlfunktionen bei immunologischen, regulativen oder Stoffwechselprozessen führen.“ In fünf Teilprojekten wollen die IMMME-Forscher nun untersuchen, was sich dabei genau abspielt – auf molekularer Ebene.





