Schwerkranke verwirrt und verunsichert

ME/CFS-Kranke verzweifelt: Berliner Firma liefert kein Medikament für Studie

Geld ist zugesagt, die Planungen laufen. Doch Berlin Cures gibt keine Zusage für eine Studie, die vielen Schwerkranken helfen könnte. Was steckt dahinter?

ME/CFS-Kranke sind oft sehr jung. Und sie leiden unter unzähligen Symptomen, darunter Denk- und Konzentrationsproblemen, genannt „Brain Fog“.
ME/CFS-Kranke sind oft sehr jung. Und sie leiden unter unzähligen Symptomen, darunter Denk- und Konzentrationsproblemen, genannt „Brain Fog“.imago/Sol B.

Die Hoffnung war groß bei vielen schwer Erkrankten. Doch nun scheint sie einer tiefen Enttäuschung zu weichen. „Die Verzweiflung darüber, dass die Regierung nichts unternimmt, um eine schnelle Hilfe für alle Beteiligten zu schaffen, ist kaum auszuhalten“, sagt Lea Runge. Die 32-jährige Psychologie-Studentin wohnt am Rande von Berlin und erkrankte vor drei Jahren an ME/CFS, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung. „Seit Dezember 2021 habe ich eine enorme Verschlechterung erfahren und bin seitdem komplett bettlägerig“, erzählt sie.

Medikamente gegen ihre Krankheit gibt es noch nicht. Auch so gut wie keine Studien, obwohl deutschlandweit etwa 300.000 Menschen unter ME/CFS leiden sollen, einer der letzten großen Krankheiten, die verschiedenste Körpersysteme betrifft und sich schon durch geringe Belastungen extrem verschlimmern kann. Umso größer war die Hoffnung, als bekannt wurde, dass vielleicht in naher Zukunft ein Medikament gefunden werden könnte, das vielen Betroffenen helfen könnte. Auch die Berliner Zeitung berichtete darüber.

An der Universitätsklinik Erlangen war die Augenärztin Bettina Hohberger auf das Medikament BC007 gestoßen. Es wurde von dem Berliner Pharmaunternehmen Berlin Cures entwickelt und befindet sich in einem Zulassungsprozess. In individuellen Heilversuchen hatte sich gezeigt, dass es ganz spezielle Autoantikörper unschädlich machen kann, die etwa bei bestimmten Formen von Herzmuskelschwäche oder beim Glaukom, bekannt als Grüner Star, eine Rolle spielen. Durch Zufall fanden die Mediziner um Bettina Hohberger heraus, dass es vielleicht auch bei Long Covid – also den langfristigen Folgen von Covid-19 – helfen könnte. Bei einigen Patienten verbesserte es die Symptome deutlich, ebenso die Mikrozirkulation.

Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Long Covid und ME/CFS

„Ein Teil der Autoantikörper, die wir bei den Long-Covid-Patienten sehen, haben wir auch bei Patienten mit ME/CFS gefunden“, sagte Bettina Hohberger. Klinik und Symptome seien bei beiden sehr ähnlich, wie etwa: eingeschränkte Belastbarkeit, extreme Erschöpfung, Geschmacksstörungen, Konzentrationsprobleme, Gleichgewichtsstörungen und erhöhter Blutdruck.

Zumindest für einen Teil der Patienten könnte das Medikament BC007 also durchaus hilfreich sein, so Hohberger. Es entstand die Idee, eine bereits im Herbst 2021 bewilligte Long-Covid-Studie auf ME/CFS zu erweitern. „Eine Parallelstudie zu ME/CFS würde klinisch und wissenschaftlich für uns absolut Sinn machen“, sagte Hohberger.

Die vergessenen Kranken

Von Stefanie Hildebrandt

11.05.2021

Nur das Geld dafür fehlte noch. So schien es. Als absolutes Minimum für solch eine Studie – um überhaupt Anträge stellen zu können und Studienvorgaben zu erfüllen – wurden 800.000 Euro angesetzt. Also starteten ME/CFS-Kranke „von ihren Krankenbetten aus“ selbst eine Crowdfunding-Aktion. Der Berliner Verein Brückeverbindet e.V. unterstützte sie. Mehr als 250.000 Euro kamen an Spenden zusammen.

Großen Jubel gab es unter den Betroffenen – so weit Schwerkranke überhaupt noch jubeln können –, als die bayrische Landesregierung im Februar 2022 eine Förderung von 800.000 Euro für die Erlanger Studie ankündigte. Nun schien es losgehen zu können. Doch die große Hoffnung ist inzwischen Zweifeln und Enttäuschung gewichen.

Zweifel an vertrauensvoller Zusammenarbeit

Es begann, als Johannes Müller, Geschäftsführer von Berlin Cures, Anfang Juni 2022 in der ZDF-Sendung „Drehscheibe“ sagte, dass es derzeit nicht möglich sei, das Medikament für die Studie in Erlangen auszuliefern, weil die Behörden noch nicht zugestimmt hätten, „dass das Medikament – also die Substanz als solche, die wir entwickelt haben – überhaupt zulassungsfähig ist. Und das sind Dinge, die macht man nicht über Nacht“. Eine Zulassung für BC007 erhoffte sich Müller für Herbst 2023.

„Die aktuelle Entwicklung lässt sich nicht erklären“, schrieb Bettina Hohberger auf Twitter angesichts des Sinneswandels, der bei Berlin Cures offenbar eingetreten war. Das Berliner Unternehmen melde sich nicht, schrieb die Erlanger Wissenschaftlerin. Seit Wochen gebe es keine Reaktion mehr. „Für uns ist das keine Art und Weise für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.“

Der bayerische Bundestagsabgeordneten Erich Irlstorfer (CSU), der sich seit längerem für eine Verbesserung der Lage von ME/CFS-Kranken einsetzt, organisierte ein „Vertrauensgespräch“ mit der Forscherin Bettina Hohberger und Berlin Cures, das am 8. Juni virtuell stattfand. Eine Stellungnahme dazu wurde am 11. Juni von Irlstorfer veröffentlicht. Hier erklärte Bettina Hohberger, dass alle Vorkehrungen für die Studien getroffen seien. Bundes- und Landesmittel seien erfolgreich akquiriert. Sie verwies zugleich darauf, dass sowohl die Projektförderung als auch der entsprechende Zeitplan vorgegeben seien – und somit von externen Faktoren abhingen.

Das seltsame Verschwinden eines Satzes

Das Unternehmen Berlin Cures erklärte, „dass das Präparat BC007 derzeit noch nicht den notwendigen Voraussetzungen entspricht, um eine Studie durchführen zu können“. Zudem müsse das Unternehmen behördliche Standards erfüllen. Auch bedürfe es einer soliden Finanzierung, „unabhängig von bisher bereitgestellten Fördersummen“. Man verwies auch auf die begrenzten Ressourcen eines Start-up-Unternehmens. Dieses hat gerade mal elf Mitarbeiter – nicht vergleichbar mit Pharmariesen wie Pfizer oder Biontech.

Am Ende hieß es in der Stellungnahme vom 11. Juni, dass im vierten Quartal des Jahres 2022 eine Auslieferung des Präparates erfolgen könne. „Den vertraglichen Vereinbarungen entsprechend erhält das Universitätsklinikum Erlangen umgehend die zugesagten Dosen, um dann eine Forschungsstudie starten zu können. Dies betrifft sowohl die Long-Covid- als auch die ME/CFS-Studie.“

Nach einem kurzen Aufatmen Tausender ME/CFS-Kranker, die jede Entwicklung in dieser Sache genau verfolgen, passierte etwas Seltsames. Der letzte Satz der Stellungnahme – dass die Studien sowohl Long-Covid als auch die ME/CFS-Studie beträfen – verschwand plötzlich. „Dies erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch des Unternehmens Berlin Cures, trotz vorangegangener Freigabe beider Parteien der ersten Fassung“, erklärte Erich Irlstorfer. Das Unternehmen will das nicht kommentieren.

Die Erlanger Forscherin Bettina Hohberger teilte dann am 26. Juni mit: „Berlin Cures wird uns leider keine Präparate für die ME/CFS-Studie zur Verfügung stellen.“ Obwohl die Planungen bis vor wenigen Wochen noch so ausgesehen hätten, „dass wir die Studien parallel stattfinden lassen können“. Und obwohl die Finanzierung für beide Studien „vollständig vorhanden“ sei.

Das Unternehmen Berlin Cures äußert sich zu Fragen

Das wirkt alles dubios und chaotisch. Aber wenn man genauer hinschaut, zeigen sich doch die unterschiedlichen Interessen. Viele ME/CFS-Kranke blicken voller Hoffnung auf dieses Medikament, als wenn dies schnell eingesetzt werden könnte, wenn nur die Erlanger Studie stattfände. Aber dies ist eine Illusion, offenbar auch durch falsche Erwartungen geschürt. Denn BC007 hat noch überhaupt keine Zulassung. Es kann vom Arzt – außerhalb streng limitierter Heilversuche – weder für ME/CFS noch für Long Covid eingesetzt werden. Von dieser Zulassung hängt alles ab. Auf diese will sich Berlin Cures konzentrieren. Und da ist Long Covid offenbar gesellschaftlich mehr im Fokus als ME/CFS.

Aber all diese Zusammenhänge wurden offenbar bisher nicht genügend kommuniziert. Wie auch die Kommunikation in dieser Sache generell ein Problem ist. „Eine öffentliche Stellungnahme von Berlin Cures gibt es bis dato nicht, und auf unsere Anfragen per Mail wird nicht reagiert“, heißt es in einem Schreiben von Betroffenen. Der Grund ist offenbar, dass sich das Unternehmen medial zurückhält, um den Zulassungsprozess für BC007 nicht zu gefährden.

„Die Entwicklung eines solchen Medikaments in einer Phase 2 kostet circa 30 Millionen Euro, pro Indikation“, erklärt Peter Göttel, Mitglied der Geschäftsleitung des Start-ups, auf Nachfrage der Berliner Zeitung. „Berlin Cures hat keinerlei öffentliche Mittel oder gar Spendengelder erhalten. Eine lokale, kleine Studie in Erlangen wäre für eine Zulassung nicht relevant und würde für die vielen ME/CFS-Patienten in der Breite nichts bewirken.“ Das Unternehmen wolle zunächst Long Covid erforschen – und dann im Erfolgsfall andere, möglicherweise verwandte Indikationen wie ME/CFS, sagt Göttel. „Für die parallele Bearbeitung von zwei Indikationen fehlen uns die finanziellen Ressourcen und auch ausreichende Mengen des Prüfpräparates.“

Berlin Cures plant große europäische Studie für die Zulassung von BC007

Zur Frage, warum Berlin Cures einen Rückzieher bei ME/CFS gemacht habe, heißt es: „Wir haben keinen Rückzieher gemacht, da es keine Verabredung gab.“ Die zitierten vertraglichen Vereinbarungen beträfen bisher nur die Long-Covid-Studie. „Unser Ziel bleibt, eine allgemeine Zulassung für BC007 zu erreichen. Zunächst im Bereich Long Covid. Hierzu wollen wir eine multizentrische Studie durchführen.“ Diese soll ab Anfang des nächsten Jahres an 15 Kliniken in Europa stattfinden, wie Johannes Müller, der Geschäftsführer von Berlin Cures, bereits im ZDF ankündigte. Die Studie soll eine ausreichende Datenbasis schaffen, um ein beschleunigtes Zulassungsverfahren zu erwirken.

„Auch die lokale Studie in Erlangen zu Long Covid, bei der die Uni Erlangen als Sponsor auftritt, werden wir mit der Bereitstellung von BC007 unterstützen“, sagt Peter Göttel. „Weitere klinische Forschung in anderen Indikationen wie ME/CFS kann dann im Anschluss stattfinden.“ Peter Göttel betont, dass man sich des Leidensdrucks der ME/CFS-Kranken sehr wohl bewusst sei und dass man diese auch weiter im Fokus habe. Zunächst gehe es aber um die Zulassung des Medikaments.

Die Frage ist allerdings, warum so lange über eine Doppelstudie – Long Covid und ME/CFS – geredet wurde, wenn Berlin Cures diese angeblich gar nicht im Auge hatte und zurzeit gar kein Medikament dafür zur Verfügung stellen kann. War das ein reines Missverständnis? Gab es einen Kurswechsel? Einen plötzlichen Engpass? Die Frage ist auch, was mit der guten Million Euro passiert, die ja ganz gezielt für die Erlanger ME/CFS-Studie gesammelt und zur Verfügung gestellt wurde. Offenbar sucht die Medizinerin Bettina Hohberger da jetzt andere Wege. „Unser Team und ich haben die letzten Wochen intensiv genutzt um die ME/CFS-Studie anderweitig stattfinden zu lassen“, schreibt sie auf Twitter. „Vielleicht geht ja die eine oder andere Tür auf. Wartet ab.“

Humanitäre Katastrophe im Umgang mit ME/CFS und Long Covid

In dieser ganzen Debatte geht es jedoch um viel mehr als um die Erlanger Studie. „Wir ME/CFS-Betroffenen werden seit Jahrzehnten vom Gesundheits- und Sozialsystem ignoriert, durchleiden jeden Tag Höllenqualen durch unsere Symptome und kämpfen jeden Tag dafür, dass die Regierung uns endlich erhört und eine Medikamentenstudie finanziert“, sagt Lea Runge. Etwa 560 Unterschriften trägt ein offener Brief, der sich an die Bundesministerien für Gesundheit und Forschung richtet. Darin fordern Betroffene, dass die Regierung endlich etwas tut gegen diese „humanitäre Katastrophe im Umgang mit ME/CFS und Long Covid“.

Genau dazu hat sich die neue Bundesregierung auch verpflichtet. „Zur weiteren Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von Covid-19 sowie für das chronische Fatigue‐Syndrom (ME/CFS) schaffen wir ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen“, heißt es im Koalitionsvertrag.

„Wie lange sollen wir denn noch zu Hause vor uns hinvegetieren bis uns endlich geholfen wird?“, fragt Lea Runge. Vor allem in Forschung muss dringend investiert werden. So zum Beispiel könnte man in großem Stil bereits für andere Krankheiten zugelassene Medikamente auch für Long Covid und ME/CFS testen. Das wäre ein schnellerer Weg, als wenn man erst einmal ein Zulassungsverfahren durchstehen muss wie bei BC007. Einen ersten Lichtblick gibt es. Fünf Millionen Euro vom Bund sollen in ein entsprechendes Programm unter Leitung der Charité fließen. Für die Schwerkranken – darunter Hunderttausende sehr junge Menschen und sogar Kinder – zählt am Ende jeder einzelne Tag.