Retter selbst in Not

Berliner Rettungsdienst: Herzinfarkt, Schlaganfall, Bauchschmerzen - was nun?

Die Hitzewelle in Berlin löst den Ausnahmezustand aus: Erstmals kann Leitstelle der Berliner Feuerwehr nicht mehr alle Notrufe bedienen.

Zahlreiche Menschen gehen bei strahlendem Sonnenschein am Reichstagsgebäude vorbei. Die hohen Temperaturen lösten bei manchem Kreislaufprobleme aus.
Zahlreiche Menschen gehen bei strahlendem Sonnenschein am Reichstagsgebäude vorbei. Die hohen Temperaturen lösten bei manchem Kreislaufprobleme aus.dpa/Jörg Carstensen

Der Zustand der Berliner Feuerwehr ist so desolat, dass sie manchmal keine Rettungswagen schicken kann. Sie hat zu wenig Personal, um das riesige Einsatzaufkommen zu bewältigen. Am Wochenende mussten deshalb sogar Löschfahrzeuge zu medizinischen Notfällen fahren.

Die Lage dürfte sich in den kommenden Tagen verschärfen. Die Meteorologen sagen wieder Temperaturen über 30 Grad voraus, die viele Kreislaufzusammenbrüche zur Folge haben dürften. „Aufgrund der Wetterlage müssen wir außerdem zusehen, dass wir den Grundschutz bei der Brandbekämpfung sicherstellen“, sagt Feuerwehrsprecher Thomas Kirstein.

In der Nacht zum Sonntag herrschte beim Rettungsdienst 16 Stunden lang Ausnahmezustand. Wenn dieser von der Leitstelle ausgerufen wird, bedeutet das unter anderem: Besatzungen von Löschfahrzeugen lassen ihre Autos stehen und besetzen die noch freien Rettungswagen.

Am Wochenende war es besonders schlimm. Laut einem Lagebericht, der innerhalb der Feuerwehr verschickt wurde, fehlten in der Nacht zu Sonntag 90 Mitarbeiter. 21 Rettungswagen (RTW) waren nicht besetzt. Und das, obwohl es in den 16 Stunden Ausnahmezustand 1641 Einsätze gab, davon 1108 im Rettungsdienst und 296 mit Notärzten.

Es liegt nicht an fehlenden Rettungswagen. Denn bereits am Sonnabendvormittag fehlten 106 Mitarbeiter, sodass 27 RTW nicht besetzt werden konnten. Darunter waren zehn der Hilfsorganisationen. Denn auch die Hilfsorganisationen wie Johanniter und Malteser bekommen ihre Wagenbesatzungen nicht zusammen. Der Grund dafür, dass so viel Personal fehlt, ist eine Mischung aus beginnender Urlaubszeit, hohem Krankenstand und aber auch zahlreichen Stellen, die derzeit einfach nicht besetzt werden können.

Ausnahmezustand beim Rettungsdienst an jedem Tag

Mittlerweile herrscht an jedem Tag in Berlin „Ausnahezustand Rettungsdienst“. Am Wochenende war die Lage aber erstmals so gravierend, dass die Notrufe nach Dringlichkeit und nicht mehr nach Reihenfolge ihres Einganges abgearbeitet werden mussten.

Notrufe, die etwa auf Schlaganfall oder Herzinfarkt hindeuteten, hatten oberste Priorität. Wer hingegen wegen einer Verstauchung oder Bauchschmerzen anrief, musste sich gedulden – eine risikoreiche Verfahrensweise. Denn ein Disponent in der Leitzentrale kann nicht immer erkennen, ob den Bauchschmerzen nicht doch eine lebensgefährliche Erkrankung zugrunde liegt.

Deshalb rücken Sanitäter beziehungsweise Notärzte prinzipiell bei jedem Notruf aus, auch wenn sich die Sache später als Bagatellfall herausstellt. Das verlangt das Berliner Rettungsdienstgesetz.

Von solchen Notrufen gibt es Zehntausende im Jahr: Menschen wählen die 112, weil sie Schlafstörungen haben, einen eingewachsenen Fußnagel oder Schnupfen. Es gibt sogenannte High-frequent-User, die sieben- bis zehnmal im Jahr die Feuerwehr wegen Lappalien rufen.

Eine Lösung für die Berliner Feuerwehr ist vorerst nicht abzusehen

Die Zahl der Rettungsdiensteinsätze ist im vergangenen Jahr noch einmal gestiegen und liegt inzwischen bei über 420.000. Durchschnittlich alle 66 Sekunden wird in Berlin ein RTW alarmiert.

Eine Lösung für den Dauer-Ausnahmezustand ist vorerst nicht abzusehen. Zwar hat Feuerwehrchef Karsten Homrighausen bei der Vorstellung des aktuellen Feuerwehrberichts angedeutet, dass die Hilfsorganisationen, die bereits jetzt ein Viertel der Einsätze fahren, noch stärker eingebunden werden sollen. Doch auch viele von ihnen fahren bereits jetzt schon personell am Limit.

Obwohl die Feuerwehr seit einiger Zeit wieder verstärkt Nachwuchs einstellt, wird es dauern, bis der seine Ausbildung abgeschlossen hat. Etwa 1500 Feuerwehrleute werden innerhalb der kommenden sieben Jahre in den Ruhestand gehen.

Jeder, der den Notruf 112 wählt, bekommt seinen Rettungswagen

Viele Rettungswageneinsätze ließen sich einsparen, indem man gleich beim Notruf die Anrufer auf einen normalen Arzt verweist. Um den Mitarbeitern der Leitstelle Rechtssicherheit zu geben bei der Entscheidung, welcher Einsatz wichtig ist und welcher warten kann, müsste das Abgeordnetenhaus das Rettungsdienstgesetz des Landes ändern. Das ist aus Feuerwehrkreisen zu hören.

Auch Alexander Herrmann, Feuerwehr-Experte der CDU, meint das. „Einfach zusätzliche RTW-Fahrzeuge bereitzustellen, genügt nicht, diese müssen auch regulär durch Einsatzkräfte besetzt werden können“, sagt er. Dazu müsse es im Regelbetrieb und umso mehr im Ausnahmezustand eine echte Priorisierung der Abarbeitung der Notfalleinsätze geben.

Dies löse kein einziges Problem, sagt hingegen Tom Schreiber, innenpolitischer Sprecher der SPD. Erst im September trete das Parlament wieder zusammen. Er glaubt auch nicht, dass mehr Autos und mehr Personal etwas grundlegend ändern würden: „Das Nadelöhr ist dort, wo die Notrufe eingehen und innerhalb von Sekunden Entscheidungen getroffen werden müssen.“ Er fordert, dass es für die verantwortlichen Disponenten zügig Rechtssicherheit geben und in der Innenverwaltung und der Feuerwehrführung eine Lösung gefunden werden müsse.

Schreiber ist auch dafür, dass Leute, die wegen eines Schnupfens die 112 wählen „und somit wissentlich den Notruf missbrauchen“, die Kosten für den Einsatz tragen müssen.

Allerdings hat die Feuerwehr nicht einmal selbst Zahlen darüber, wie hoch der Anteil der Bagatell-Notrufe ist. Für die Evaluierung dieser Zahlen fehlen die Leute.