Seltsam, dass Geschichte oft immer oberflächlicher und spekulativer wird, je länger sie her ist. Jüngst fand ich einen Artikel unter der Dachzeile: „Knorke: Diese Begriffe kennen nur Menschen, die in der DDR groß geworden sind“. Abgesehen davon, dass der Begriff „knorke“ da nichts zu suchen hat (man änderte die Zeile dann auch später), denn er ist ein Berliner Begriff aus den 1920er-Jahren: Seit wann gehören „Muckefuck“, „Kanapee“, „Eierkuchen“, „Mutti“, „Vati“ oder „Stulle“ zu den Wörtern, die man nur kennt, wenn man in der DDR aufgewachsen ist?
Das hieße ja, der alte West-Berliner, der „Jib mir mal ’ne Stulle!“ sagt, wuchs in Wirklichkeit in der DDR auf. Nee, die „Stulle“ ist nun wirklich ein uraltes Ding. Man kennt das Wort schon seit 200 Jahren oder mehr. Wie auch den „Muckefuck“. Der Begriff soll unter Friedrich dem Großen im späten 18. Jahrhundert entstanden sein.
Die Legende geht so: Aus Frankreich eingewanderte Gärtner bauten wegen des hohen Kaffeezolls in Preußen Zichorie an – für Ersatzkaffee. Diesen verkauften sie als „mocca faux“ (gefälschten Mokka) – woraus der Berliner „Muckefuck“ machte. Eine andere Variante besagt, dass der „Muckefuck“ als Ersatzkaffee-Begriff zuerst im Rheinland auftauchte – zusammengesetzt aus „Mucken“ (braunem Holzmulm) und „fuck“ (faul).
Als die Oma noch rief: „Fieße weg vont Kannepee!“
„Wir ham zwar als Kinda in de DDR wirklich literweise Muckefuck in uns rinjekippt, bis wa uff Club Cola umjestiejen sind“, mischt sich mein innerer Berliner ein. „Aber deswejen nehm wa doch unsern janzen Berliner Vorfahren ihr schönet Wort nich weg. Und schon jar nicht den Rheinländern. So is dit ooch mit’m ‚Kanapee‘, wat vor Urzeiten von de Franzosen ins Land jeschleppt wurde. ‚Fieße weg vont Kannepee!‘ hat manche Oma jeschümpt, die noch untern Kaiser uffjewachsen is. Wat aba mit de DDR nischt zu tun hat. Ick kleena Ossi hab jedenfalls imma uff’m Sofa jesessen. Oder uff de Kautsch. Mancher Wessi dajejen haut sich heute sicher imma noch uff sein ollet Kanapee. Und frisst dabei Kanapees, haha.“
Recht hat er mal wieder, mein alter Quasselfritze. Eigentlich sollte man ja auch gar nicht mehr reagieren, wenn man auf solche seltsamen Portale stößt, in denen es um Geschichte geht, nicht nur der DDR. Man weiß ja, wie so etwas entsteht. Da kommt jemand und sagt: „Mach mal ’ne Liste, die klickt gut!“ Und dann werden lauter Begriffe aus dem Bauch gezogen. Oder sonstwo her. Nichts wird richtig recherchiert. In der Summe vieler solcher Listen entsteht dann ein großer Brei von Behauptungen und Halbwahrheiten.
Das Wort „Mutti“ wurde nicht im Osten geboren
„Mutti“ und „Vati“ haben sich meine Großeltern schon genannt, da war die DDR noch „a twinkle in Stalin’s eye“, wie man auf Neudeutsch sagen würde. Na klar, im Osten ging „Mutti früh zur Arbeit“, aber der Begriff selbst ist regional bedingt – eher im Norden beheimatet. Auch in westlichen Bundesländern sagen immerhin fast 22 Prozent der Erwachsenen „Mutti“, wie eine Umfrage 2013 ergab.





