Berlin-Kaum ein Berliner Autofahrer, der nicht über Staus und Baustellen klagt. Trotzdem geht es mit dem Auto in der Stadt meist deutlich schneller voran als mit Bus und Bahn. Das zeigt eine Studie des Mobility Institute Berlin, die nun erschienen ist. „Unsere Forschungen ergaben, dass in Berlin eine Fahrt mit dem Nahverkehr im Schnitt 1,95-mal so lange dauert wie eine Fahrt mit dem Auto“, sagte Institutschef Torben Greve der Berliner Zeitung. Auch wenn die Hauptstadt im bundesweiten Ranking nicht schlecht abschnitt, bleibe sie unter ihren Möglichkeiten. „Berliner Tempo: Das war vor hundert Jahren ein Aushängeschild der Stadt. Damals warb Berlin zu Recht mit seinem schnellen Nahverkehr“, so Greve. „Berliner Tempo: Das muss wieder ein Qualitätssiegel werden.“
Das Institutsteam, das in einer Etage unweit vom Hackeschen Markt residiert, hat Reisezeiten in elf Städten systematisch miteinander verglichen. Für zahlreiche Verbindungen wurde ermittelt, wie lange man dort mit dem Auto werktags gegen 8 Uhr unterwegs ist. Dem wurde die jeweils schnellste Verbindung mit dem Nahverkehr zwischen 7.30 und 8.30 Uhr gegenübergestellt.
München ganz oben, Hamburg ganz unten
Lokalpatrioten wird es freuen, dass Berlin in dem bundesweiten Ranking auf den drittbesten Platz kam – fast gleichauf mit dem Sieger München und Stuttgart, wo Fahrten mit dem Nahverkehr im Schnitt 1,94-mal so lange dauern wie mit dem Auto. Damit setzte sich die Hauptstadt deutlich von den Städten auf den hinteren Rangplätzen ab. „Am Ende der Skala stehen Bremen, Dortmund und Hamburg“, berichtete Greve. „In Hamburg beträgt der Faktor 2,24.“ Ein Grund zum Jubeln sei das Ergebnis für Berlin trotzdem nicht. „Wie andere Städte hätte auch Berlin besser abschneiden können.“
Sind Studien wie diese nicht eine Reklame fürs Auto – und eine Anti-Werbung für den klimafreundlichen Nahverkehr? „Wir möchten nicht falsch verstanden werden“, entgegnet der Geschäftsführer. „Zwar hat unsere Untersuchung in der Tat ergeben, dass das Auto im Vergleich zum Nahverkehr in der Regel einen Zeitvorteil hat. Doch damit wollen wir Bahnen und Busse nicht diskreditieren. Denn unsere Untersuchung hat einen zweiten Teil. Wir zeigen auf, wie der Nahverkehr aufholen und schneller werden kann.“
Forderung Nummer eins: mehr Schienenstrecken. „Unsere Untersuchung zeigt, wie wichtig eine gute Schieneninfrastruktur ist“, erklärte Torben Greve. Das lasse sich zum Beispiel an den Ergebnissen für Buch im Nordosten Berlins ablesen. Danach trage die S-Bahn-Strecke mit der Linie S2 entscheidend dazu bei, dass der Nahverkehr selbst zu weit entfernten Zielen wie Spandau, Zehlendorf und Tempelhof konkurrenzfähig ist. „Daraus folgt, dass das Berliner Schienennetz überall dort, wo ausreichend Nachfrage vorhanden ist, erweitert werden muss. Wir brauchen Lückenschlüsse und neue Bahnstrecken, damit der seit langem stagnierende Marktanteil des Nahverkehrs in Berlin steigen kann.“
Wo sollen Gleisverbindungen entstehen? „Die Studie belegt, wie wichtig die seit langem geplante Nahverkehrstangente auf dem Berliner Außenring im Osten der Stadt ist“, sagte Greve. Eine solche Nord-Süd-S-Bahn-Verbindung zwischen dem Nordosten Berlins ab Buch und Pankow via Hohenschönhausen, Marzahn, Biesdorf, Spindlersfeld nach Adlershof und zum BER würde viele Relationen beschleunigen. Viele Berliner Grüne lehnen Erweiterungen des U-Bahn-Netzes zum jetzigen Zeitpunkt ab. Doch Greve spricht sich dafür aus, auch einen U-Bahn-Ausbau zu prüfen. „Auch hier ist der Nordosten ein Beispiel: Eine Verlängerung der U2 nach Niederschönhausen wäre ebenso sinnvoll wie eine Verlängerung der U9 zum Bahnhof Pankow“, sagte er.
Verlängerung der Autobahn A100 ist „kontraproduktiv“
Forderung Nummer zwei: mehr Direktverbindungen. Greve nennt ein Beispiel: „Für die Strecke vom Klinikum Buch nach Ahrensfelde haben wir eine Nahverkehrs-Reisezeit von 56 Minuten errechnet. Mit dem Auto ließe sich die Strecke in 13 Minuten zurücklegen.“
Ebenfalls wichtig: mehr Busspuren und Vorrangschaltungen an Ampeln, die dem Nahverkehr an Knotenpunkten Priorität einräumen. „Hier hat Berlin ebenfalls Nachholbedarf“, so der Institutschef. „Wenn die Verkehrsregelungstechnik in Berlin die entsprechenden Möglichkeiten bieten würde, wären maßgeschneiderte Lösungen denkbar. In Zürich gibt es Ampelschaltungen, die es Bussen während der Hauptverkehrszeit erlauben, die Gegenfahrbahn zu nutzen, um so am Stau vorbeizufahren“ – eine spektakuläre Werbung für den Bus, die Autofahrer grübeln lässt.
Sollte Berlin auch etwas unterlassen? Ja, sagt Torben Greve: den Ausbau der Stadtautobahn. „Aus unserer Sicht wäre es kontraproduktiv, dem Auto durch Straßenbau zusätzliche Zeitvorteile einzuräumen“, so MIB-Geschäftsführer. „Wenn die Verlängerung der A100 von Neukölln nach Treptow tatsächlich ans Netz ginge und vielleicht noch wie vom Bund geplant bis Friedrichshain und Lichtenberg verlängert würde, käme der Nahverkehr noch weiter ins Hintertreffen.“
Berliner Ampeltechnik ist nicht mehr zeitgemäß
„Natürlich gibt es weitere Faktoren, die Einfluss darauf haben, ob jemand den Nahverkehr nutzt oder nicht. Fahrpreise, Komfort, Zuverlässigkeit – das sind ebenfalls wichtige Elemente“, betonte Greve. Auch mit der Möglichkeit, in der Bahn arbeiten zu können, könne der Nahverkehr punkten. „Doch klar ist, dass die Geschwindigkeit zu den wichtigsten Größen gehört. So haben wir in Hamburg ermittelt, dass der Anteil des öffentlichen Verkehrs an den zurückgelegten Wegen entlang von Schnellbahnachsen 60 Prozent erreichen kann. In Außenbereichen, wo nur Busse verkehren, können es nur zehn Prozent sein“, sagte er.
Berlin könnte viel weiter sein, meint Greve. Allerdings habe sich hier nach einer langen Zeit der Stagnation ein enormer Nachholbedarf in puncto moderne Infrastruktur aufgestaut, so die Analyse. „Über viele Jahre hinweg erwartete man kein Wachstum, die Berliner Verwaltung und Politik waren auf Sparen angelegt. Das betrifft nicht nur das Schienennetz, sondern auch die Ampeln. Was die Verkehrsregelungstechnik anbelangt, hinkt Berlin anderen Städten wie Zürich weit hinterher.“
Fahrgastverband fordert rasche Verbesserungen
In Berlin sei auch schmerzlich zu spüren, dass es hier kein verkehrspolitisches Ziel gibt, das mit einer klaren Strategie um- und durchgesetzt wird, so Greve. „Nicht einmal über den Ausbau des Schienennetzes, bei U- und Straßenbahn, gibt es hier einen stadtweiten Konsens. In Hamburg ist das anders.“




