Die Bernauer Straße in Mitte steht wie kaum ein Ort in der Stadt für den Schrecken der Mauer und für verzweifelte Fluchtversuche. In der Gedenkstätte Berliner Mauer wird die Erinnerung daran wachgehalten. Dort, wo die Mauer abgerissen wurde, zeichnen Stahlrohre den Verlauf des Betonwalls nach. Im Boden wird auf Fluchttunnel hingewiesen.
Gut möglich, dass demnächst weitere Markierungen im Boden dazukommen. Im erweiterten Gebiet der Gedenkstätte an der Bernauer Straße zwischen Brunnenstraße und Ruppiner Straße stehen nämlich archäologische Grabungen an. Der Grund: Die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) will dort, an der Bernauer Straße 26 und 34 zwei Neubauten mit 86 Wohnungen auf dem ehemaligen Grenzstreifen errichten. Vorher muss der Untergrund auf historische Spuren untersucht werden.
Dabei könnte Spektakuläres gefunden werden: Womöglich Reste des legendären Tunnels 29, über den an dieser Stelle im September 1962 insgesamt 29 Menschen die Flucht von Ost- nach West-Berlin gelang. Daher kommt der Name. Die Geschichte war Grundlage für den Fernsehfilm „Der Tunnel“ aus dem Jahr 2001, den der Sender Sat.1 mit Heino Ferch in der Hauptrolle drehte.
Bodenfunde sollen dokumentiert werden
„Bereits im letzten Jahr haben wir erste archäologisch begleitete Suchschachtungen durchgeführt“, sagt WBM-Sprecher Matthias Borowski. „Es zeigte sich, dass Kellerwände, Fundamente und Hofpflasterungen der für die Errichtung des Grenzstreifens abgebrochenen Gebäude direkt ab unterhalb der Grasnarbe im Boden verblieben sind.“
Mehr noch: „Auch auf unserem Baugelände haben sich Fluchttunnel befunden“, sagt Borowski. „In welchem Zustand diese sich befinden, wissen wir noch nicht.“ Um die Tunnel zu erreichen, soll in einem ersten Schritt im Bereich der früheren Kellerebene der Boden archäologisch untersucht und dokumentiert werden. „Neben historischem Fundmaterial aus der Zeit vor dem Mauerbau könnten auch bauliche Reste der Grenzanlagen gefunden werden“, sagt Borowski. „Die vermuteten Fluchttunnel liegen unterhalb der Kellerebene und werden dann in einem zweiten Schritt lokalisiert, freigelegt und untersucht.“
Das Problem: Bisher ist nicht vorgesehen, Tunnelreste oder andere historische Spuren vor Ort zu erhalten und zugänglich zu machen. „Um die Erinnerung an die Teilung Berlins wachzuhalten, werden die Fluchttunnel auf unseren Baugrundstücken innerhalb der Pflasterung nachgezeichnet“, sagt WBM-Sprecher Borowski. „Die Untersuchungen werden in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden, insbesondere mit der Denkmalpflege, abgestimmt und durchgeführt.“
Stiftung grundsätzlich offen für anderen Umgang mit den Spuren
Aber reicht das? Wäre es nicht notwendig, die historischen Spuren im Original zu bewahren und sichtbar zu machen? Die Stiftung Berliner Mauer, die für die Gedenkstätte an der Bernauer Straße zuständig ist, zeigt sich grundsätzlich offen für einen anderen Umgang mit historischen Spuren. „Unser zentrales Anliegen und unser Auftrag ist es, die historischen Spuren und Ereignisse in der Bernauer Straße zu erhalten, zu dokumentieren und zu erklären“, sagt Stiftungssprecherin Hannah Berger. „Vor diesem Hintergrund würde eine modifizierte Planung sicher neue Perspektiven und Denkmodelle für eine erweiterte Gestaltung des Stadt- und Erinnerungsraums ermöglichen.“
Die Grundstücke der WBM seien „allerdings nicht Teil des Geländes der Stiftung Berliner Mauer und die geplante Bebauung ist konform mit dem Bebauungsplan und dem dezentralen Gedenkstättenkonzept des Landes Berlin“, gibt Berger zu bedenken. Der Plan sieht für den Bereich zwischen Brunnen- und Schwedter Straße vor, dass der ehemalige Postenweg im rückwärtigen Teil der Grundstücke das verbindende Element ist. Sofern dort bei den Arbeiten Spuren und Überreste alter Fluchttunnel wie zum Beispiel des Tunnel 29 gefunden würden, müssten diese dokumentiert und nachgezeichnet werden, sagt Berger. Dies gelte auch für den Grenzverlauf.
„Die Stiftung hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2008 in der Bernauer Straße auf die Umsetzung des Gedenkstättenkonzepts konzentriert“, sagt Berger. „Eine potenziell andere Behandlung der Grundstücke stand bislang nicht zur Diskussion, doch könnte eine Diskussion mit neuen Fragestellungen neue Perspektiven eröffnen, aber auch neue Rahmenbedingungen schaffen, die nicht ohne weitreichende Konsequenzen sind.“

Bund verkauft Flächen ans Land und sichert sich Belegungsrechte
Soll heißen: Falls Reste von Fluchttunneln vor Ort erhalten bleiben und sichtbar gemacht werden sollen, erfordert dies ein Umdenken bei Planern und Bauherren. Die Bebauung würde sich womöglich verteuern. Dafür blieben wertvolle Spuren der Geschichte erhalten, die ansonsten unwiederbringlich verloren gingen.



