Sieben Fragen zur Integration

Jens Großpietsch: „Wir müssen Menschen mit der richtigen Haltung einfangen!“

Wie können wir die ukrainischen Flüchtlingskinder gut ins Berliner Bildungssystem aufnehmen? Hier die Ideen des langjährigen Schulleiters Jens Großpietsch.

Jens Großpietsch, Mitgründer der privaten Freudberg-Gemeinschaftsschule, früher Schulleiter, heute noch als Lehrer dort tätig.
Jens Großpietsch, Mitgründer der privaten Freudberg-Gemeinschaftsschule, früher Schulleiter, heute noch als Lehrer dort tätig.Benjamin Pritzkuleit

Nach ersten Schätzungen leben jetzt 25.000 ukrainische Flüchtlingskinder in Berlin. Wie soll die Stadt mit dieser großen Herausforderung umgehen? Wir haben Menschen gefragt, die sich mit Integration auskennen – aus eigener Erfahrung, durch ihr Nachdenken und berufliches Handeln: sieben Fragen für eine bessere Integration. Hier antwortet Jens Großpietsch, Gründer der Freudberg-Gemeinschaftsschule.

1. Können die ukrainischen Kinder auf beides vorbereitet werden – auf die Rückkehr in ihr Heimatland und ein mögliches Leben in Deutschland?

Die meisten Schüler:innen müssen wir auf beides vorbereiten. Nur da, wo die Eltern schon jetzt entschieden haben, auf jeden Fall in Deutschland zu bleiben, ist das anders. Sinnvoll ist es in allen Fällen, dass die Schüler:innen ihre Muttersprache bei Ukrainisch sprechenden Lehrer:innen weiterhin auch schulisch pflegen. Die Anerkennung von Ukrainisch als zweiter Fremdsprache sollte den ukrainischen Flüchtlingskindern und deren Eltern schnell verbindlich mitgeteilt werden.

2. Sollten alle geflüchteten Schulkinder in Willkommensklassen gehen?

Jeder Schüler, jede Schülerin ist anders, hat andere Vorkenntnisse, Fähigkeiten und Bedarfe. Die allgemeingültige Antwort, die schulische Lösung für alle geflüchteten Schulkinder gibt es nicht. Die vermehrten Anstrengungen und die größere Anstrengungsbereitschaft sollten für alle geflüchteten Schulkinder gelten, nicht nur für die aus der Ukraine.

Je jünger die Flüchtlingskinder sind, desto eher ist die unmittelbare Eingliederung in Regelklassen hilfreich. Der Wunsch und oft auch die Notwendigkeit, sich im sozialen Miteinander und im Unterricht mitzuteilen, ist in deutschsprachigen Klassen oder Lerngruppen eben nur auf Deutsch möglich. Stundenweise zweisprachige Lehrer:innen begleitend einzusetzen, muss gerade am Anfang ermöglicht werden.

Der Nachteil von rein ukrainischen Willkommensklassen ist, dass dann nur in den dafür vorgesehenen Stunden deutsch gesprochen wird. Möglichst angepasste individuelle Lösungen sind wünschenswert. Schulverbünde, die zum Beispiel unterschiedliche Modelle haben, wären da sicherlich hilfreich.

3. Wenn Sie Berlins Bildungssenatorin wären, was würden Sie jetzt tun?

Alles, was die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung von Schulen stärkt, schnell umsetzen. Das Hin und Her um den Verfügungsfonds, das Geld also, das die Schulen kurzfristig relativ unbürokratisch ausgeben können, ist ein aktuelles Negativbeispiel. Ja, man kann in jede Klasse mal schnell einen Stuhl mehr hineinstellen, wie es der Vorschlag von Frau Busse war, nur muss ich den auch gegebenenfalls schnell mal kaufen können.

Und das würde ich tun: zuhören, was die Praktiker:innen sagen, was sie vorschlagen. Wie Bertolt Brecht sagte: „Nur belehrt von der Wirklichkeit, können wir die Wirklichkeit ändern.“ Wissenschaftlich die Praxis evaluieren, wie die unterschiedlichen „Modelle“ helfen – erfolgreich sind. Auch damit mit dem nächsten größeren Schub von Flüchtlingskindern, und der kommt bestimmt, pädagogisch professioneller umgegangen werden kann.

4. Wie können wir mehr Räume gewinnen und mehr Menschen, die erziehen und unterrichten?

Pädagog:innen müssen Kinder und Jugendliche mögen – eigentlich klar. Schon in der eigenen Schulzeit hat man Pädagog:innen mit einer tollen Haltung erlebt, aber auch gegenteilige, sie dienten dann eher als Negativbeispiel. Jeder Unterricht erzieht, ob ich will oder nicht. Menschen mit der richtigen Haltung suchen, finden, einfangen. Es gibt Initiativen, wo solche Menschen zahlreich vertreten sind: „Lese-/Lernpaten“, „Teach First“, die Deutsche Kinder und Jugendstiftung, SOS-Kinderdorf, um nur vier zu nennen. Mit denen eng zusammenarbeiten, auch um möglichst viele als zukünftige Lehrer:innen zu werben.

Man muss die Schule öffnen für die unterschiedlichsten Erfahrungsräume. Zum Beispiel durch Kooperationen mit den umliegenden Betrieben, Geschäften, Einrichtungen. Frau Busse meint, man solle in der Schule zusammenrücken. Ja, wenn nötig. Mein Vorschlag: 10 Prozent der Raumfläche der Bildungsbehörde, auch in den Bezirken, wird für die Schulen freigeräumt, bis genug Schulen gebaut sind.

5. Was sind Ihre persönlichen Berührungspunkte mit dem Thema „Einwanderung“?

Meine beruflichen Berührungspunkte beginnen 1975 mit den damaligen „Ausländerregelklassen“ an meiner Hauptschule in Moabit (Heinrich-von-Stephan-Schule), reichen über Klassen mit nur polnischsprachigen Schüler:innen in den 80er-Jahren bis heute an der Freudbergschule mit Flüchtlingskindern aus den unterschiedlichsten Nationen. Klassen, in denen die unterschiedlichsten sozialen, kulturellen, nationalen Hintergründe vertreten sind, sind ein Zugewinn für alle Schüler:innen und Lehrer:innen. Das erlebe ich jeden Unterrichtstag an meiner jetzigen Schule.

6. Gibt es schon ukrainische Kinder in Ihrem Umfeld? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

An meiner jetzigen Schule haben wir ganz schnell Flüchtlingskinder aus der Ukraine aufgenommen. Meine subjektive Statistik also, was mir bisher mehrheitlich auffällt: Mathematik wird vielfach als Lieblingsfach genannt, es besteht eine durchschnittlich sehr hohe Anstrengungsbereitschaft, Deutsch zu lernen. Erstaunlich wie „gut“, zumindest nach außen hin, viele ukrainische Schüler:innen mit ihren Fluchterfahrungen umgehen.

7. Worauf müssen wir achten, damit Integration wirklich gelingt?

Menschlich sein und bleiben. Integration von Flüchtlingen nicht nur als Problem oder Last, sondern auch als Bereicherung, Horizonterweiterung verstehen. Lasten in unserer Gesellschaft gerechter verteilen. Beispiel: Warum sollen reiche Eltern keine Kitagebühren bezahlen? Und: die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen nicht gegeneinander ausspielen. Beispiel: Warum wurden und werden nicht die gleichen Anstrengungen für syrische Flüchtlingskinder und auch Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern unternommen? Warum nur besondere Maßnahmen für die ukrainischen Kinder?

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Isabella Galanty
Serie und Person
Die Berliner Zeitung möchte eine Debatte anstoßen, wie man die ukrainischen Flüchtlingskinder am besten in das Berliner Bildungssystem integrieren kann. Hier der Beitrag von Jens Großpietsch. Er ist 73 Jahre alt. Von 1975 bis 2014 arbeitete er als Lehrer und Schulleiter an der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule in Berlin-Moabit. Sechs Jahre war er Schulleiter der privaten Freudberg-Gemeinschaftsschule, die er mitgegründet hat. Noch immer arbeitet er dort voller Freude als Lehrer. Zurzeit unterrichtet er auch ukrainische Flüchtlingskinder.