Erinnerung

Hilbigs Flaschen im Keller und die Schrift an der Wand

Autoren wie Ingo Schulze, Katja Lange-Müller und Lutz Seiler erinnerten in der Akademie der Künste an den Dichter Wolfgang Hilbig.

Wolfgang Hilbig blickt uns an, fotografiert 2001 in Bergen-Enkheim/Frankfurt am Main.
Wolfgang Hilbig blickt uns an, fotografiert 2001 in Bergen-Enkheim/Frankfurt am Main.dpa

Berlin-Es war sein Lektor Jürgen Hosemann, der am Mittwochabend in der Akademie der Künste aussprach, was vielen da schon schwante: Ihm sei es, als würde Wolfgang Hilbig unterirdisch noch weiterschreiben. Am nachträglichen Geburtstagsabend für den am 31.8.1941 geborenen Dichter und Prosaautor erzählte Hosemann von der Arbeit an der Werkausgabe. Verabredet worden war sie noch mit Hilbig selbst, wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 2007.

Auf dem Podium im Saal saßen mehrere Schriftsteller aufgereiht, die sich biografisch und literarisch mit Hilbig verbunden fühlen. Während sie seine Texte vortrugen, ob Gedichte aus drei Jahrzehnten wie Lutz Seiler oder Prosaausschnitte wie Ingo Schulze oder Wilhelm Bartsch, da wechselten langsam Fotos des Geehrten an einer großen Leinwand über ihnen. Da kam es zu Begegnungen. Katja Lange-Müller las aus „Die Flaschen im Keller“; den Erzähler umgibt ein schlieriges, bald schimmliges Gemenge aus vergorenem Obstsaft und unzählbaren Flaschenpyramiden, unheimlich und komisch. Währenddessen schwebte über ihr eine Weile ein Doppelporträt, das sie 1989 mit Hilbig zeigt. Ihr Lachen, das auf dem Bild ja ihm galt, strahlte in den Saal von 2021.

Das größte Geistesabenteuer

Die Fotos wiederholten sich, doch weil es sehr viele waren, dauerte es immer, bis die Schleife neu ansetzte mit dem Passbild des noch jungen langhaarigen Dichters, der als Heizer arbeitete. Bilder aus Meuselwitz bei Leipzig folgten, wo er geboren wurde und in den Siebzigerjahren wieder lebte, Fotos von Signierstunden, Autorentreffen, Gesprächsrunden. Eine Aufnahme von 1990 zeigt ihn vor einer Hauswand, auf die in großen Buchstaben „Satan forever“ gekritzelt steht. Darunter saß Lutz Seiler, das dunkel pochende Gedicht über den Raben von Edgar Allan Poe vortragend, es klang wie ein Echo: „uns vor der stirn das krächzen/ dies ekle/ ever/ nevermore“. Die Vortragenden, die ja alle selbst schreiben, verwandelten ihre Stimmen, ihr Sprechtempo, um Hilbig nah zu sein und dem Publikum nahezubringen.

Michael Opitz, der Moderator des Abends, war hörbar bemüht, sich selbst zu bremsen, um seine vielen Gesprächspartner zu Wort kommen zu lassen. Als Autor der 2017 erschienenen Hilbig-Biografie hätte er zu jeder Phase, jedem ausgewählten Text selbst vieles sagen können. Auch untereinander konnten sie nur kurz reagieren, wenn dem einen beim anderen ein Motiv, ein Schwerpunkt aufgefallen war. Sieben Bände umfasst die Werkausgabe, die Produktion eines intensiven Dichterlebens, als bedeutend erkannt von den Zeitgenossen, nachwirkend auf die Jüngeren. Wilhelm Bartsch, der für den letzten Band mit Essays, Reden, Interviews das Nachwort geschrieben hat, nannte die Beschäftigung damit „das größte Geistesabenteuer“ des vergangenen Jahrzehnts.