Der Wendepunkt kam am 14. April 1969 - modisch, feministisch, generationentechnisch. Als Barbra Streisand die Bühne des Dorothy Chandler Pavilion erklomm, um ihren Hauptdarstellerinnen-Oscar für „Funny Girl“ entgegenzunehmen, stockte ganz Hollywood der Atem. Denn die 26-jährige Streisand trug nicht etwa das erwartbare bodenlange Shiftkleid, sondern einen transluzenten schwarzen Nightclub-Pyjama zwischen Clown und Yves Saint Laurent. Den hatte Bob Mackie, der aufstrebende junge Kostümdesigner ihres Vertrauens, zwar mittels hautfarbenem Unterzeug blickdicht gemacht, aber eben nicht physikalisch stringent. Im Flashlight der Fotografen sah es dann doch so aus, als wäre Miss Streisands Po unter dem Tüll und dem (ebenfalls netzartigen) beigen Marquisette einfach nur: nackig. Vor allem, als sie stolperte und etwas vornüber kippte.
Das Foto des amüsierten Blicks, den die ebenfalls prämierte und für ihre stolze Modeabstinenz bekannte Ingrid Bergman damals auf die vor ihr stehende Streisand warf, ist ein Schnappschuss für die Ewigkeit. Und natürlich ist er in diesem Buch.
Modehistorie als Blätterfest
Solche Momente liefert der Prestel-Bildband „Oscars – Glamour auf dem roten Teppich“, der sicher nicht zufällig genau jetzt erschienen ist, knapp vor der Starparade bei den 95. Academy Awards in Los Angeles. Sagen wir es klipp und klar: Das von der australischen Modeexpertin Dijanna Mulhearn verfasste Buch ist eine Sensation. Ein absolut überfälliges Blätterfest für Filmfans, eine vor Detailinfos geradezu platzende Modehistorie von 1929 bis 2022. Und damit auch eine frühe Centennial-Feier der Oscars.

Chronologisch geordnet, startet der Bildband mit den allerersten Academy Awards, die noch als gesetzte Dinners in Luxushotels stattfanden, bei denen Hollywood unter sich blieb. Doch spätestens 1940 werden die Awards hochpolitisch: Als nämlich die Schwarze Schauspielerin Hattie McDaniel den Oscar als Beste Nebendarstellerin erhält, für ihre Verkörperung der Hausangestellten Mammy in dem damals hochdekorierten Film „Vom Winde verweht“. McDaniel trug die damals schicken Kamelien im Haar und am Revers, doch sie musste über einen Nebeneingang zum Dinner kommen und von ihren Co-Stars wie Vivien Leigh und Clark Gable separiert sitzen. Es ist Mulhearn hoch anzurechnen, dass sie solche historischen Fakten der Leserschaft nicht erspart.
Der weibliche Star als Pralinenschachtel
Noch etwas fällt ins Auge beim Studieren der frühen Jahre: Um wie viel älter die Stars von Hollywoods Goldener Ära auf den Fotos wirken, als sie wirklich waren. Mit Hochsteckfrisur und weißem Pelzjäckchen sieht etwa die 21-jährige Joan Fontaine (movie buffs bekannt als die bescheiden-resiliente Zentralfigur von Hitchcocks „Rebecca“ von 1940) für heutige Augen aus wie eine Frau Ende 30, Anfang 40. Gleiches gilt für Grace Kelly, die vielleicht ebenmäßigste Filmbeauty aller Zeiten, und andere Schönheiten der 1950er. Sie wirken, als wären sie nicht nur ready for their close-ups, sondern für den Heiratsmarkt. Paternalistisch durchwebt sind ihre Auftritte, was wohl damit zu tun hat, dass gerade Newcomerinnen in dieser Filmepoche von den deutlich älteren Chef-Kostümdesigner:innen der Studios für die Oscars zurechtgemacht wurden. Rüschenkaskaden, Blumenstickereien, Schleifen und fast immer tief dekolletiert – der weibliche Star als Bonbonniere aus der Süßwarenabteilung. Selbst die junge Joan Collins musste sich 1958 noch in diese Debütantinnen-Ästhetik fügen.

Was danach kam, lässt vermuten, dass die Hauptinspiration für Barbies frühe Garderobe in Beverly Hills lag. Viele der Schauspielerinnen wirken, als wären sie auf menschliches Maß hochgezoomte Puppen. Erst Mitte der Sixties beginnt sich das Bild radikal zu wandeln. Was einerseits mit den europäischen Filmstars zu tun hatte, die auf Stippvisite in Hollywood vorbeischauten, andererseits mit dem gleichzeitigen Erstarken der Mode in Paris, London und Rom.
Die Filmwelt mutierte zum Jetset, der Atlantik wurde in Stunden und nicht mehr Tagen überquert, und die Grenzen zwischen Film und Mode immer durchlässiger. Jane Fonda, die damals mit dem Nouvelle-Vague-Regisseur Roger Vadim zusammen war, trug auch zu den Oscars den mal schlichten, mal hippie-opulenten Feminismus des jungen Pariser Modestars Yves Saint Laurent.
Der New Yorker Halston rettet die Eleganz
Nach den Verkindlichungs-Exzessen der Sechziger mit Mini und Textilgitter über dem Bauch gaben New Yorker Designer wie Roy Halston und etwas später Calvin Klein dem weiblichen Körper seine Würde zurück, ohne die Erotik links liegen zu lassen. Besonders Halstons ultrasimple und dabei hochraffiniert geschnittene Sarongkleider von 1975/76 an Elizabeth Taylor, Angelica Huston, Marisa Berenson oder Lauren Hutton, ebenso wie der weiße Hosenanzug von Richard Tyler an Diane Keaton, sind Augenöffner in dem Buch. Der Beweis, dass so etwas wie zeitübergreifende Eleganz sogar im Rummel einer Oscar-Nacht möglich ist.

Und: Wer hätte gedacht, dass nicht Linebacker-Schultern das Signum der 1980er-Abendmode waren, sondern bauschige Keulenärmel? 1981 idealtypisch präsentiert am Hochzeitskleid aus elfenbeinweißem Taft von Diana Spencer, die fortan als „Lady Di“ der britischen Monarchie Beine machte beziehungsweise sie bis an den Rand des Abgrunds führte. Aber eben auch die Weltmode prägte, wie das Buch belegt.
Noch etwas entdeckt man: Dass die Vintage-Bewegung in der Mode nicht erst kürzlich anfing, sondern als Faden des Individuellen wohl durch die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lief. Bei den Oscars war dies den gutbestückten Secondhandboutiquen von Los Angeles wie Lily et Cie geschuldet. Es verrät aber auch die Sehnsüchte junger Stars und ihre Identifikation mit Jean Harlow oder Louise Brooks. Zum Insider-Trend wurde das, als Jungstars wie Molly Ringwald, Winona Ryder, Martha Plimpton und Juliette Lewis in den 1980ern und 1990ern die fließenden Satin- und Perlenstickerei-Kleider der Twenties bis Forties auftrugen. Und darin, dank lässiger Hairstyles und Schmuckabstinenz, toll aussahen. Wobei: Schon Angie Dickinson erschien 1976 auf dem Oscar-Teppich in einer exakten Kopie jenes „Nacktkleids“ mit strategischem Paillettenbesatz, mit dem Marlene Dietrich bei ihren Comeback-Konzerten in den 1960ern faszinierte. (Dickinson war damals mit Burt Bacharach verheiratet, der die Dietrich bei ihren Konzerten begleitet hatte.)
Modische Totalausfälle: Demi Moore ’89, Kim Basinger ’90, Geena Davis ’92
Dijanna Mulhearns Bildauswahl nimmt uns mit auf einen Schnelldurchlauf durchs Auf und Ab der Eleganz in den letzten Dekaden. Inklusive die Totalausfälle, als da wären: Kim Basinger 1990 und Geena Davis 1992, jeweils in Kleinmädchenträumen vom großen Auftritt. Auf ungute Art unvergesslich blieb auch Demi Moore 1989, im ebenfalls selbst erdachten Outfit aus schwarzen Lycrashorts mit flattrigem Goldbrokatrock hintenrum.

Ästhetisch erfolgreicher war da schon das Mixen von Billig und Teuer, das in den Neunzigern zum Megatrend wurde und sich 1996 und 1998 in Sharon Stones Kombis von schwarzem Gap-Baumwollrolli und weißem Herrenhemd zum langen Satinrock manifestiert. Und dazwischen, immer wieder: Die Rettung des Starimage durch Giorgio Armani – an Meryl Streep, an Michelle Pfeiffer, an Glenn Close und Jodie Foster. Wobei selbst dem Mailänder Maestro nicht alles glückte.
In den 2000er-Jahren dann ein Tanz auf dem Vulkan, der mit der Kreditimplosion von 2008 ausbrechen würde. Die Roben sind so belle-èpoque-haft überladen, so virtuos überdekoriert, als würden sie sich über sich selbst lustig machen. Worauf um 2010 etwas Neues beginnt, sichtbar an Ricardo Tiscis Givenchy an Cate Blanchett oder Giambattista Vallis federleichter Chiffonfülle an Lupita Nyong’o und Zendaya. Oder Anne Hathaway 2013 in pastellrosa Satin von Prada, als wäre die Grazie von Audrey Hepburn zurück.
Die Herren blieben lange beim Frack
Und die Männer? Hatten es immer einfacher. Sie hielten sich an Frack (bis in die 1960er hinein, wie Fotos von Sidney Poitier, Robert Wagner und einem jugendlichem Ronald Reagan belegen) oder Smoking, und machten sich einen schönen Abend. Nach kurzem Aufflattern in Richtung modischer Selbstausdruck in den 1970ern bei Querschlägern wie Donald Sutherland oder Jack Nicholson regierte auf dem roten Teppich das Blacktie von Armani, Zegna und Gucci. Erst in den letzten Jahren schlugen Jared Leto, Adrien Brody und der engelsgleiche Timothée Chalamet eine Bresche in diese Phalanx schwarz-weißer Uniformiertheit. Der Billy Porter 2019 mit seiner Mann-Frau-Robe von Christian Siriano (obenrum Smoking, unten Queen Victoria) den ultimativen, da hochästhetischen Stinkefinger zeigte.

Was also nimmt man mit aus diesem Buch? Dass Sonnenbrillen am coolsten aussehen, wenn sie zu Abendrobe oder Smoking getragen werden. Aber auch Belege dafür, unter welchem zeitlichen oder/und ökonomischen Druck die Globalisierung des Glamours im Printbereich stattfindet. Selbst bei Prunkprojekten wie diesem. Denn leider stolpert die kundige Leserschaft immer wieder über fatale Faktenfehler, die beim Übersetzen aus dem englischen Original passiert sein müssen. Da ist der Beiruter Couturier Elie Saab, der die Oscar-Gewinnerin Halle Berry ausgestattet hat, auf einmal weiblich, und die Designerin und Stylistin L’Wren Scott (immerhin jahrelang Lebenspartnerin von Mick Jagger) männlich. Auf Seite 272 verwandeln sich Karl Lagerfelds frühe Jahre bei Chloé in eine Tätigkeit „für Hervé Leger“, der erst viel später in der Mode mitmischte. Peinlich.









