Elzbieta Ficowska wurde am 5. Januar 1942 in Warschau geboren. Mit sechs Monaten wurde sie von ihrer jüdischen Mutter an Irena Sendler übergeben, die mit dem „Rat für die Unterstützung von Juden“ bis zu 2500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto rettete: Sie organisierte mit einem Netzwerk gefälschte Geburtsurkunden, leistete materielle und medizinische Hilfe und organisierte die Unterbringung der geretteten Kinder. Die gesamte Familie von Elzbieta Ficowska wurde später ermordet.
Am 5. Mai wird im Berliner Admiralspalast das Theaterstück „Irena“ aufgeführt, das ihre Geschichte erzählt (eine Produktion des Teatr Muzyczny in Posen). Wir haben die Holocaust-Überlebende in Warschau getroffen und aus Anlass des Jahrestages des Aufstands des Warschauer Ghettos (19. April 1943) interviewt.
Frau Ficowska, die Polin Irena Sendler hat – selbst hat sie die Zahl nie offengelegt – bis zu 2500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto gerettet. Sie gelten als das jüngste. Wie alt waren sie damals?
Ich war ein halbes Jahr alt. Das war 1942. Ich erinnere mich an sehr wenig, was sicherlich auch mein Glück war.

Sie sind danach in Polen sehr behütet aufgewachsen.
Ja. Ich wurde sehr geliebt. Von meiner zweiten, polnischen Mutter, die Hebamme war und die mich aufgenommen hat. Ich war ihre Tochter und sie meine Mutter. Ihre Kinder waren damals fast 40 Jahre alt. Und dann hatte ich noch ein Kindermädchen, das sich bis zum Abitur um mich gekümmert hat. Sie hat mich auch sehr geliebt. Ich wurde quasi mit Liebe überschüttet, habe dies sehr genossen und habe beide Frauen auch sehr geliebt.
Doch dass sie heute leben, ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein Wunder.
Nach vielen Jahren habe ich erfahren, dass meine jüdische Mutter mich mitnahm in die Többens-Werke im Warschauer Ghetto, in denen sie als Zwangsarbeiterin in der Schneiderei arbeiten musste. Als Säugling wurde ich von ihr mit Schmerzmitteln betäubt, damit ich nicht schrie. Weil aber bekannt war, dass Frauen ihre Säuglinge mitnahmen, schlugen die Deutschen des Öfteren heftig mit den Gewehrkolben gegen die Rucksäcke der Jüdinnen. So auch gegen den Rucksack meiner Mutter. Nur Millimeter an meinem Kopf vorbei.
Glauben Sie an Gott?
Ja. Ich rede seit meiner frühesten Kindheit mit Gott und brauche dafür mittlerweile keine Vermittler mehr.
Sie erhalten eine Bestätigung per E-Mail.
Hat aus Ihrer Familie jemand überlebt?
Ja, mein Opa. Wobei dies streng genommen der Bruder meines Großvaters war. Aber wissen Sie, ich wollte einfach einen Opa haben und daher war es mein Opa. Er war Jahre vor Kriegsbeginn in die USA ausgewandert und so war er der einzige, der neben mir überlebt hat. Meine Eltern sowie alle anderen wurden ermordet.
Vor rund 20 Jahren habe ich Irena Sendler angerufen und wollte damals mit ihr über ihre Geschichte sprechen. Doch sie wimmelte ab und meinte, dass dies damals niemanden interessiert habe und daher zur Zeit unseres Telefonates auch niemanden interessieren würde.
Sie war damals schon über 90 Jahre alt und hat auch zeit ihres Lebens trotz diverser Auszeichnungen, unter anderem als „Gerechte unter den Völkern“, nicht die gebührende Anerkennung für ihre Taten erhalten. Wir sind ihr allerdings unendlich dankbar, dass wir dank ihr überlebt haben.
Sie waren mehrere Jahre lang Vorsitzende des Vereins der Kinder des Holocaust. Wie ist es den anderen geretteten Kindern ergangen?
Wir wurden bei polnischen Familien, Klöstern und Pflegeeinrichtungen untergebracht. Und so wurden einige von uns innig geliebt, andere wiederum fühlten sich wie das fünfte Rad am Wagen. Wir haben aber alle überlebt und das ist das wichtigste. Zeit meines Lebens war ich immer die jüngste im Verein. Mittlerweile bin ich 82 Jahre alt und bin selber gespannt, was Gott noch für Pläne für mich hat. Meine Enkelin hat letztens ein Comic mit mir in der Hauptfigur gelesen und kam danach zu mir und meinte: „Jetzt verstehe ich endlich, was die alle damit meinen, dass wer ein Leben rettet, die ganze Welt rettet. Denn ohne dich, Oma, gäbe es Mama, mich und meine Geschwister nicht.“ Wer weiß, vielleicht war das der Plan und Grund, warum ich überlebt habe.

Am 5. Mai dieses Jahres findet in Berlin die bisher einzige geplante Aufführung des Musikdramas über Irena Sendler im Admiralspalast statt. Denken Sie, Irena Sendler hätte sich gefreut?
Mit Sicherheit. Zu Beginn war auch ich ein wenig skeptisch, ob ein Musikdrama eine gute Idee ist. Ich muss ihnen aber sagen, dass es das ist. Ich werde sicherlich auch nicht ohne Grund zu den Aufführungen in Posen, Warschau und jetzt auch in Berlin eingeladen. Nach der Aufführung, nach der sich viele der Zuschauer die Tränen von den Wangen streichen, stehe ich dann auf, als jemand, der sozusagen im Stück, das soeben aufgeführt wurde, wohnt. Das wirkt, glaube ich, erleichternd.
Weil es darum geht, das Leben zu feiern.
Sie wirken immer sehr froh. Wie machen sie das?
Ich versuche immer, das Beste aus jeder Situation zu machen.
Über Ihr Leben ist gerade in Polen das Buch „Bieta“ von Cezary Harasimowicz erschienen. Sie sind die ganze Zeit auf Achse. Bei Lesungen, geben Interviews. Es hat einige Tage gedauert, bis die Buchhandlung mir eine Ausgabe des Buches besorgen konnte. Was ist das Besondere an „Bieta“?
Es ist ein Roman, der nicht nur nach meinem Spitznamen benannt ist, sondern auch auf meinem Leben basiert. Es ist ein sehr positives Buch. Die deutsche Übersetzung ist auch schon fertig. Wir suchen gerade noch nach einem deutschen Verlag. Es geht in dem Buch vor allem darum, dass das Leben gefeiert werden muss.
Dabei hat es das Leben nicht immer gut mit Ihnen gemeint. So durften Sie und Ihr Mann, der Poet und Schriftsteller Jerzy Ficowski, etwa später während der kommunistischen Herrschaft in Polen nicht publizieren.
Mein Mann hatte 1975 den „Brief der 59“ unterschrieben, in dem unter anderem die geplanten Änderungen in der polnischen Verfassung kritisiert wurden, die die Festschreibung der führenden Rolle der kommunistischen Partei und des dauerhaften und unantastbaren Bündnisses Polens mit der Sowjetunion vorsahen. Uns ging es wirklich schlecht danach, wir hatten kein Geld und so versuchte ich etwa als diplomierte Pädagogin, private Kinderfreizeiten zu organisieren. Bis die Miliz immer und immer wieder Kontrollen vornahm und ich aufgeben musste.
Was haben Sie dann gemacht?
Ich hatte es geschafft, eine Erlaubnis zu erhalten, meinen Opa in Florida in den USA zu besuchen. Dort war ich dann ein halbes Jahr lang. Ich habe als Küchenhilfe gearbeitet. Jemand anderes wäre vielleicht unzufrieden gewesen. Ich aber war wirklich sehr glücklich. Ich habe viele spannende Menschen aus der gesamten Welt kennengelernt, darunter viele Künstler und Oppositionelle. Ich habe dort 20 US-Dollar pro Tag verdient. Damals verdiente man in Polen umgerechnet 20-30 Dollar im Monat.
Haben Sie bei Ihrem Großvater gelebt?
Anfangs ja. Er lebte im Hotel und hatte mir ein Zimmer besorgt. Aber als ich merkte, dass er mitnichten Millionär war, suchte ich mir eine eigene Bleibe. Und so wohnte ich etwa bei einer Dame, bei der abends immer das Licht aus sein musste, bei der ich allerdings nichts für die Unterkunft zahlen musste. Im Gegenteil erhielt ich noch 50 Dollar im Monat dafür, dass ich ihr die Beine massierte, wenn sie nachts einen Krampfanfall hatte. Was zum Glück nicht so häufig vorkam. Und so habe ich nachts auf der Toilettenschüssel, weil dort Licht war, Kinderbücher geschrieben.
Zurück in Polen haben Sie aber nicht mit der Oppositionsarbeit aufgehört?
Ich habe häufig Dinge getan, die andere nicht getan haben. Aber auch ehrlicherweise, weil ich ein wenig naiv war und mir häufig keine Gedanken über die Konsequenzen gemacht habe. Aber irgendwie ist es immer gut gegangen.
Nach dem Umsturz des politischen Systems wurden Sie Pressesprecherin des polnischen Sozialministers und vormaligen Oppositionellen Jacek Kuroń. Wie kam es dazu?
Das war meine einzige Arbeit, in der ich wirklich festangestellt war. Weder davor noch danach kam es je wieder dazu. (lacht) Wöchentlich hatte ich etwa eine Fernsehsendung, in der ich während der Systemtransformation versucht habe, die Menschen mitzunehmen und ihnen zu zeigen, dass man die Sachen in die eigenen Hände nehmen kann. Mein Chef, der Minister, hatte damals auch eine Stiftung gegründet. Und so traf ich mal auf der Straße eine Frau, die mich aus dem Fernsehen kannte. Sie meinte, dass sie es hart habe und nicht wirklich wisse, wie sie ihre sechs Kinder über die Runden kriegen könne. Sie meinte aber, dass, wenn sie eine Wäschemangel hätte, mit ihren Kindern zu Hause bleiben und auch währenddessen arbeiten könnte. Und so ging ich zu Jacek Kuroń und er meinte: Dann mach’ das. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie stolz herausgeputzt ihre Kinder waren, als ich dann später nach einiger Zeit bei ihr mit einer Fernsehkamera aufschlug.
Hilfe zur Selbsthilfe sozusagen.
Allerdings hat mich meine Arbeit im Sozialministerium auch Demut gelehrt: Dass es zu einfach ist, zu glauben, dass wirklich alle Menschen es schaffen, alleine das Beste aus ihrer Situation zu machen.
Vor einem Jahr trafen Sie sich in Warschau mit dem deutschen Bundespräsidenten, Frank-Walter Steinmeier, und seiner Frau.
Ja, er hatte ein Interview mit mir in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus Anlass des achtzigsten Jahrestages des Aufstandes im Warschauer Ghetto gelesen und wollte sich daraufhin mit mir treffen. Ich fand es schön, dass sich das deutsche Staatsoberhaupt Zeit für ein Gespräch mit mir nahm. Herr Steinmeier hat dies nicht öffentlich getan und ich hatte das Gefühl, dass ihm viel daran lag, genauso wie seiner Frau. Ich konnte ihnen auch ein von Andrzej Okińczyc gemaltes Portrait von Irena Sendler schenken, das der Bundespräsident bei sich aufgehängt hat.
Wie ist das für Sie, wenn Sie Deutsche treffen?
Wenn ich mit jungen Deutschen zusammentreffe, versuche ich darauf zu achten, nicht von den Deutschen zu sprechen. Denn was können diese jungen Menschen für die Taten ihrer Großeltern und Urgroßeltern? Das gilt nicht nur für die ganz jungen Deutschen. So erinnere ich mich sehr gut daran, als der damals junge Student und heutige österreichische Schriftsteller Martin Pollack einmal in Tränen ausbrach, als er bei meinem Mann zu Besuch war und ich mit meiner Tochter in den Raum kam. Er sagte: „Mein Vater hätte sie beide umbringen können.“ Sehen Sie, was kann denn Martin Pollack, der später die Geschichte seines Vaters öffentlich aufgearbeitet hat, dafür, dass sein Vater Gerhard Bast als SS-Soldat in Polen gemordet hat?
Kann es denn überhaupt so etwas wie Vergebung für solche Gräueltaten geben?
Wirklich vergeben könnten nur die Ermordeten. Dies können sie nur natürlich aus ganz praktischen Gründen nicht tun. Und so geht es mir einfach darum, dass so etwas nie wieder passiert. Mein 2006 verstorbener Mann wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Er hat zeit seines Lebens auf die Frage, wer er denn jetzt sei, Jude oder Sinti und Roma – er schrieb nämlich viel über ihre Kultur – geantwortet: Wenn Juden geschlagen werden, bin ich Jude. Wenn es Sinti und Roma sind, bin ich einer von ihnen. Dabei war er Pole.
Wir haben jüngst das Massaker von Butscha in der Ukraine erlebt. Vor zehn Jahren etwa kam es nicht nur zur Verschleppung von jungen Mädchen durch die Terrorgruppe Boko Haram, sondern auch zur Flucht vor allem jesidischer Frauen und Kinder vor dem Islamischen Staat.
All das zeigt nur, wie beschränkt wir Menschen sind. Jeder von uns wird geboren und stirbt. Weder kommen sie mit etwas auf die Welt, noch können sie etwas von hier in Jenseits mitnehmen. Es ist doch nur töricht, diese Zeit auf der Erde noch künstlich zu verkürzen.
Haben Sie eine Antwort auf all das?
Der Hass muss aufhören. Ich bin zwar, wie Sie wissen, recht naiv, aber dann doch nicht naiv genug zu glauben, dass das so einfach ist. Die einzige Antwort ist die Liebe. Denn das ist das einzige, was stärker und größer wird, wenn man sie teilt.



