Aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, war ich letzte Woche mit Krücken unterwegs. Wobei das schon viel zu dynamisch klingt. Mein Unterwegssein hatte nichts Geschäftiges an sich, sondern ich hangelte mich mit vielen Pausen die Straße entlang, wobei ich eine Reihe von Entdeckungen machte. Ich erspähte Babysocken in einer Hecke, ein Vogelnest mit zertretenem Inhalt zwischen parkenden Autos, Hundekottüten verschiedenster Füllgrade, jede Menge Altkleider vor Eingängen und richtig viel Verpackungsmüll überall.
Der Eindruck, den ich auf diese Weise von meiner Straße gewann, war denkbar ungünstig, aber auch bereichernd. Niemals hätte ich, nach dem Zustand meiner Wohngegend gefragt, das Kreuzchen auf einer Skala von eins bis zehn so dicht bei „verwahrlost“ gemacht. Wenn man mit dem Fahrrad vorbeisaust, sieht alles adrett aus. Jetzt war es, als ob ich mich, von weit her kommend, seit langem mal wieder umgeschaut hätte, eine Fremde mit erwartungsfreiem Blick. Hierher also kommen die Leute, um zu leben …
Die joggingbehoste Kundschaft humpelt vorbei
Tatsächlich schraubt man, seiner üblichen Funktionalität beraubt, die Erwartungen zuerst an sich selbst und dann an alles andere (wenn auch widerstrebend) ja weit zurück. Und in dem Maße, in dem das Konzept von Terminplanung verblasst, gewinnt die Gegenwart an Kontur. Was dann natürlich nicht immer nach Entschleunigungs-Lifestyle in beruhigenden Erdfarben aussieht, sondern manchmal so unschön wie meine Straße oder so grau wie dieses kleine Untersuchungszimmer im Erdgeschoss eines Krankenhauses mit Fenster zum Hof. Durch das löchrige Fliegengitter sieht man die überwiegend joggingbehoste Kundschaft dieser Orthopädie-Einheit in ihrem je eigenen Rhythmus vorbeihumpeln, manchmal gefolgt von taschentragenden Begleitern.
Und dann kam sie. Oder er. In watschelnder Eile, aber absolut regelmäßig in der Schrittfolge, zog ein Mensch in einem formschön schwingenden Kleid über Leggins durch mein Sichtfeld. Unten schauten kräftigste Waden hervor, der Kopf war geschoren. Mit der Frage, welches Geschlecht die Person haben mochte, befasste ich mich im Gleichmut meines erwartungslosen Schauens nur den Bruchteil einer Sekunde. Sofort war mir klar, dass die Antwort belanglos sein würde, noch im Aufkommen langweilte jede Zuordnung schon. Zu sehen war (wenn auch nur von hinten) ein dynamisches Mitwesen, königlich wirkend in diesem Rahmen, eine reine Freude, das war alles.
„Ja, und?“, werden Sie fragen, weil Sie nicht wissen, wie oft ich meinen Töchtern schon zu erklären versucht habe, dass es mir nicht möglich wäre, an einem Menschen nicht wahrzunehmen, welches Geschlecht oder welche Hautfarbe oder welche Größe er oder sie hat. Dass ich es nicht bewerten will, aber dass ich es reflexhaft wahrnähme, ja wahrnehmen müsse – während sie offenbar in der Lage sind, davon vollkommen Abstand zu nehmen.

