Fünf Jahre Themis

Sexualisierte Gewalt in der Kulturbranche: Warum werden immer mehr Fälle gemeldet?

Zu ihrem fünfjährigen Bestehen zieht die Vertrauensstelle Themis Bilanz. Die Vorstandsvorsitzende Eva Hubert im Interview.

Viele Anrufe von Betroffenen beginnen mit dem Satz: „Ich bin wahrscheinlich zu empfindlich.“
Viele Anrufe von Betroffenen beginnen mit dem Satz: „Ich bin wahrscheinlich zu empfindlich.“YAY Images/Imago

Im Zuge der MeToo-Bewegung wurde 2018 mit der Themis, benannt nach der griechischen Götting der Gerechtigkeit, eine unabhängige Vertrauensstelle ins Leben gerufen, an die sich Betroffene von sexueller Belästigung und Gewalt in der Film- und Medienbranche wenden können. Zum fünfjährigen Jubiläum kann konstatiert werden: Es gibt noch viel Arbeit.

Frau Hubert, so oft wie in der vergangenen Woche war der Name Themis wahrscheinlich noch nie in den Medien zu lesen – und zwar nicht in Zusammenhang mit dem fünfjährigen Jubiläum. Inwiefern hat die Causa Til Schweiger mit der Themis zu tun?

Ehrlich gesagt, nicht viel. Wir haben ja ein klar definiertes Mandat: Machtmissbrauch in Zusammenhang mit sexualisierter Belästigung und Gewalt. Cholerische Ausbrüche, Mobbing und Arbeitsschutzmissachtung gehören nicht zu unserem Aufgabengebiet. In der Recherche des Spiegel wird allerdings auch ein Vorfall geschildert, in der eine junge Komparsin aufgefordert wurde, ihre nackten Brüste zu zeigen. Mit diesem Vorfall wäre man bei uns an der richtigen Adresse. Aber selbst wenn sich jemand in Bezug auf Til Schweiger bei uns gemeldet hätte: Das dürfte ich Ihnen jetzt natürlich nicht sagen.

Wer kann sich bei der Themis melden?

Alle Menschen, die sich an ihrem Arbeitsplatz im Film- und Bühnenbereich und seit letztem Jahr auch in der Musikbranche, sexuell belästigt fühlen, physisch oder verbal. Wenn es um nicht-physische Übergriffe geht, sind die Betroffenen oft sehr unsicher. Nicht wenige Gespräche beginnen mit dem entschuldigenden Satz: „Ich bin wahrscheinlich zu empfindlich.“ Doch wenn die Menschen dann weitererzählen, kommen unsere Beraterinnen in aller Regel zu dem Schluss, dass es sich durchaus um sexuelle Belästigung handelt. Auch wenn jemand „nur“ ständig das Aussehen kommentiert oder den Arm um die Schulter legt. Das zu hören, sich in ihrem Unwohlsein von einem Dritten bestätigt zu fühlen, hilft vielen schon sehr.

Viele Männer sagen in solchen Situationen: Das ist keine Belästigung, das sind Komplimente.

Natürlich. À la: Ich zeige dir doch nur, was für eine tolle Frau du bist. Aber da hat sich zum Glück seit 2016 doch einiges geändert. Mittlerweile wird in der Regel nicht mehr gefragt, wie der Täter oder die Täterin zu dem Vorfall steht, sondern wie die Betroffenen es empfinden. Wenn jemand sagt, dass man sich zum Beispiel durch ständige blöde Witzchen gestört und auch in der Arbeit beeinträchtigt fühlt, dann müssen sich nicht die Betroffenen erklären, sondern die Täter.

Wie helfen Sie den Betroffenen?

Wir beraten sowohl psychologisch als auch juristisch. Meistens gibt es ein erstes Gespräch, das circa eine Stunde dauert und dann entscheiden sich die Menschen, ob sie konkreter werden und vielleicht auch juristische Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Wir können die Beschwerde auch an den Arbeitgeber weiterreichen. An diesem Punkt sind die Betroffenen dann allerdings nicht mehr anonym. Das schreckt viele Menschen ab. Aber wenn sie zustimmen, können wir zum Beispiel um ein klärendes Gespräch bitten, bei dem unsere Juristinnen dann auch dabei sind.

Themis (v.l.n.r.): Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Staatsministerin für Kultur und Medien, Ferda Ataman, unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, sowie Eva Hubert, Themis-Vorstandsvorsitzende, nehmen an einem Pressegespräch zu fünf Jahren Vertrauensstelle Themis teil.
Themis (v.l.n.r.): Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Staatsministerin für Kultur und Medien, Ferda Ataman, unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, sowie Eva Hubert, Themis-Vorstandsvorsitzende, nehmen an einem Pressegespräch zu fünf Jahren Vertrauensstelle Themis teil.Kay Nietfeld/dpa

Wie reagieren die Arbeitgeber?

Sehr unterschiedlich. Viele wissen nicht, wie sie angemessen sensibel mit der Situation umgehen können, und deshalb ist es auch gut, dass wir diese Gespräche begleiten. Generell kann ich sagen, dass viele sehr offen reagieren und wir wirklich das Gefühl haben, dass ein Umdenken stattfindet. Die meisten wollen ja auch wissen, was in ihrem Laden los ist und haben ein Interesse daran, dass ihre Mitarbeiter zufrieden sind. Auch unsere Präventionsseminare für Unternehmen sind enorm gefragt, für dieses Jahr sind schon alle ausgebucht. Es ist doch auch so: In einem Klima der Angst, in dem sich alle wegducken, ist es viel schwieriger, kreativ zu arbeiten. Aber es gibt auch Arbeitgeber, die mauern. Gerade wenn es um Produktionen geht, die schon abgeschlossen sind.

Was dann?

Dann können wir leider nichts mehr tun.

Rufen eigentlich auch Männer an?

90 Prozent der Betroffenen sind Frauen.

Wenn Männer anrufen: Beschweren die sich über andere Männer, oder auch über Frauen?

Sowohl als auch.

Es gibt die Themis nun seit fünf Jahren. In dieser Zeit wurden 845 Fälle sexueller Belästigung gemeldet, über 2000 Beratungsgespräche haben stattgefunden – Tendenz steigend. Nach Ihrer Einschätzung: Melden sich mehr Menschen oder verschlechtern sich die Verhältnisse?

Wir haben die Erfahrung gemacht: Je mehr über Themis gesprochen wird, desto mehr Betroffene melden sich. Laut einer neuen Studie kennt nur ein Drittel der Menschen in der Kulturbranche die Vertrauensstelle überhaupt. Das muss mehr werden!

Es liegt also nicht daran, dass es mehr Übergriffe gibt?

Nein, das glaube ich nicht. Die Verhältnisse haben sich gebessert. Im Bewusstsein des Großteils der Arbeitgeber hat sich etwas verändert. Der Deutsche Bühnenverein hat schon 2018 eine freiwillige Selbsterklärung verfasst, mit einem klaren Verhaltenskodex, der dann 2021 noch mal angepasst wurde. Dort wurde seit der Gründung auch viel Werbung für Themis gemacht, deshalb kamen am Anfang auch viele Anrufe von Betroffenen aus diesem Bereich.

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Bina Engel
Zur Person
Eva Hubert gehört zu den Gründungsmitgliedern der Grünen, von 1997 bis 2015 war sie Geschäftsführerin der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein. Seit 2019 sitzt sie ehrenamtlich im Vorstand der Themis – Vertrauensstelle für sexuelle Belästigung und Gewalt e.V.

Wie ist es heute? Aus welchem Bereich werden die meisten Vorfälle gemeldet?

Bühne und Film/Fernsehen halten sich die Waage. In der Musikbranche ist die Themis bisher noch nicht so bekannt, daher haben uns von dort bisher auch nicht so viele Anfragen erreicht.

Die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, hat in dieser Woche in einer Pressekonferenz ihren Aktionsplan gegen Belästigung und sexuelle Gewalt in Kultur und Medien vorgestellt. Welche Rolle spielt die Themis dabei?

Vor allem soll die Präventionsarbeit ausgebaut werden, das halte ich für sehr sinnvoll. Ich hoffe auch sehr, dass durch das Projekt das Thema generell in der öffentlichen Diskussion präsent bleibt.

Was wird in diesen Präventionsseminaren vermittelt?

Die Kulturbranche ist ja eine besondere in dem Sinne, dass dort oft alles vermeintlich sehr locker und familiär abläuft. Man duzt sich, man trinkt zusammen, alles ist irgendwie nett. In dieser Situation Grenzen ziehen zu lernen, ist wichtig. Sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber. Und letztere müssen einen Sinn dafür entwickeln, wann es angebracht ist einzuschreiten.

Zum Abschluss eine konkrete Situation: Eine Frau ruft an, die seit einer Woche an einem Filmset arbeitet und sich durch die anzüglichen Bemerkungen eines männlichen Kollegen unwohl fühlt. Was raten Sie ihr?

Ich persönlich würde ihr in einem ersten Schritt raten, unbedingt zu versuchen, sich die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen zu suchen. Es melden sich auch durchaus häufig gar nicht die Betroffenen, sondern Zeuginnen, die unsicher sind, wie sie helfen können. In der Gruppe kann man dann zusammen überlegen, wie man am besten vorgeht. Das hängt von den Strukturen ab. Ein Weg kann sein, den Täter anzusprechen, oder auch einfach deutlich zu zeigen, dass die Betroffene nicht allein dasteht. Die wichtigste Lektion ist: Keiner soll ein Einzelkämpfer bleiben. Außerdem würde ich ihr dringend ans Herz legen, sich mit ihrem Fall an die Beraterinnen der Themis zu wenden.