Man merkt der „Minna von Barnhelm“ an, dass Lessing sich ein bisschen zu viel Zeit gelassen hat mit der Entscheidung, ob er sein Stück in einer Katastrophe oder glücklich enden lassen würde. Es ist eins von diesen Ihr-habt-es-so-gewollt- oder Ihr-habt-es-nicht-anders-verdient-Happy-Ends, bei denen man froh ist, dass man keine fünf Minuten später aus der Handlung geworfen wird. Der nächste Stimmungsumschwung steht sicher schon vor der Tür und lässt alles wieder in die Brüche gehen. Dank der im Stück wechselnden Umstände und dank der Manipulationen Minnas wissen wir, auf welch unzuverlässigen Füßen ihr Lebensglück steht. Man kennt das von sich selbst und eiert so durch.
Der preußische Major Tellheim ist nach dem Siebenjährigen Krieg mit einer Armverletzung und dem Verdacht der Korruption unehrenhaft aus der Armee entlassen worden. Seine Mittel sind verbraucht, er lässt im Wirtshaus anschreiben und wird in ein kleineres Zimmer verlegt, als eine edle Dame aus Sachsen Quartier nimmt – es ist: Minna von Barnhelm, seine Verlobte, seine große Liebe. Welch ein Glück! Doch mit der Exposition das Happy End zu setzen, wäre keine Alternative gewesen. Jetzt geht es erst einmal bergab.
Der Dramatiker setzt einen Punkt und nimmt die Beine in die Hand
Tellheim will die Verlobung lösen, weil er sich als unwürdigen Ehemann sieht. Im weiteren Verlauf dreht Minna den Spieß um, indem sie behauptet, enterbt worden zu sein, während sich das Schicksal Tellheims wendet: Der König stellt seine Ehre wieder her, und Geld gibt es auf einmal auch wieder. Jetzt tut aber Minna so, als dürfe sie ihn aus Ehrengründen nicht mehr ehelichen und treibt diesen Streich so weit, dass offensichtlich wird, von welch eitlem Firlefanz die Liebe Tellheims bedingt ist und wie wenig sie mit Minna zu tun hat. Als der Scherz aufgelöst wird, ist es eigentlich schon längst zu spät, aber bevor den Figuren das klar wird, setzt der Dramatiker einen Punkt und nimmt die Beine in die Hand.
Die am Sonnabend im Deutschen Theater (DT) herausgekommene Inszenierung von Anne Lenk rechnet diese von Lessing durchkalkulierten Wendungen in aller Ruhe Schritt für Schritt nach, strafft dabei den Text aber auf gut unter zwei Stunden, indem sie harte Schnitte setzt und gleich tief in die Situationen hineinspringt. Das funktioniert über eine zweistöckige Bühne, die aus einem oberen und einem unteren Kasten besteht, die einander spiegeln und an- und ausgeknipst werden können. So ein ähnliches Setzkasten-Bühnenbild hat Judith Oswald auch für Lenks vor zwei Jahren mit großem Erfolg am Deutschen Theater herausgekommene „Maria Stuart“ gebaut, allerdings sind die Minna-Figuren nicht so streng voneinander isoliert, sondern switchen zwischen oben und unten – ein Bild für die vielmalig umgestapelte Hierarchie zwischen Tellheim und Minna.
Ein bisschen zu klug und fast schon zu alt
Der Trumpf des Abends sind die clownesken Schauspieler, für die Lenk frappante Auftritte und Gangarten erfunden hat und die von der Kostümbildnerin Sibylle Wallum hinreißend verformt wurden. Tellheim (gespielt von Max Simonischek) wird von Frackzipfeln krummgezogen und tappst auf großen gelben Füßen durch seine Misere, Minna (Natali Seelig) ist für ihren von ihrer Intelligenz fast schon widerlegten Lebenshunger ein bisschen zu kostbar eingepackt. Beide sind nicht mehr die frischesten Pralinen.
Minnas Kammerfrau Franziska sollte eigentlich von Franziska Machens (die „Maria Stuart“ von 2020) gespielt werden, musste aber krankheitshalber umbesetzt werden. Eingesprungen ist ein paar Tage vor der Premiere Seyneb Saleh, die natürlich dafür gefeiert werden muss und zu deren Verdienst es gehört, Machens Spiel wiedererkennbar zu halten. Möglich ist das durch einen herrlich elastischen Gang auf Stelzenbeinen, sodass die Figur allein durch ihre Höhe die Würde der hierarchischen Arrangements verkorkst. Bernd Moss geht als Tellheims triefiger Diener Just in würdigen Tränensackfetzen, der Unteroffizier Paul Werner (Jeremy Mockridge) ist ein Wunder an stets übergut gelaunter, tief in die Charakterstruktur hineingreifender Bügelfaltenstraffheit, und die Wirtin (Lorena Handschin) vermag gleichzeitig zu schleichen und zu hüpfen, was schön betont wird durch ihr kurzes lila Fransenhemdchen, das ein paar hinterherschwebende Fäden zieht.
Das Ensemble hat Lust, das Timing flutscht, die Situationen knallen. Schade eigentlich, dass man zwischendurch in Ruhe Atem holen darf und sich offenbar ein bisschen dafür schämen soll, dass man über das Unglück der Figuren gelacht hat, die schließlich einen Krieg in den Knochen haben. Es wäre nicht nötig gewesen, den Abend mit den ernsten, erklärenden Spaßverderber-Raps von Fatoni, vertont von Camill Jammal, zu kontrastieren. Man wäre schon noch früh genug über seine Schadenfreude und dann über die eigene Situation erschrocken.


