Wir können nicht in die Zukunft schauen und erst recht nicht aus der Zukunft zurück. Der Nebel ist zu dicht, und es ist wenig geblieben, auf das man sich verlassen kann. Aber wenn es in ein paar Jahren das Theater noch geben sollte, dann hat es diesen Umstand wohl auch Nikolaus Merck zu verdanken. Ja, es ist ganz schön viel gesagt, aber es trifft doch auch zu: dass er das Theater gerettet haben wird, indem er das Gespräch über das Theater gerettet und ihm ein Forum gegeben hat, als es zu verstummen drohte.
Er würde das wohl mit einem Grinsen quittieren und von sich weisen und einen dabei angucken, als hätte man den Verstand verloren – und er würde das Ganze auf eine ironische Ebene heben, wo unsere Gespräche auch irgendwie immer landeten. Nun aber kann er sich gegen die Zuschreibung nicht mehr wehren. Er ist am Freitagabend nach langer Krankheit mit 65 Jahren in Berlin gestorben, meldet Nachtkritik.de. Niko ist tot.
Aus einer Idee wird ein Lebenswerk
Nikolaus Merck, 1957 in Darmstadt geboren, arbeitete vier Jahre als Dramaturg in Schwerin und wechselte dann auf die Seite der Theaterkritik, schrieb unter anderem für die Frankfurter Rundschau, die taz, die Zeit und für das Fachblatt Theater der Zeit. Wie so viele von uns musste er hilflos dabei zusehen, wie die Papierzeitungen dünner wurden, die Redaktionen schrumpften, die Leserschaft ins Internet und die sozialen Medien abwanderte, wo ein jeder sein passendes Bläschen findet. Die Digitalisierung rollte ihr Kommunikationsnetz aus und analoge Kulturtechniken wie das Theaterspiel – und erst recht die Theaterkritik – erschienen auf einmal als Luxus oder als überholt.
Während viele Kollegen sich mit ihren Selbstvergewisserungsnöten und Kränkungen in den immer enger werdenden Nischen verbarrikadierten, sah Nikolaus Merck in der größten kulturumstürzenden technologischen Entwicklung seit der Erfindung des Buchdrucks eine Chance. Nach seiner Idee gründete er 2007 zusammen mit den Theaterjournalisten Petra Kohse, Esther Slevogt und Dirk Pilz sowie mit dem Künstler Konrad von Homeyer die Internetplattform Nachtkritik.de und öffnete damit den virtuellen Raum fürs Gespräch über Theater – einen Raum, zu dem jeder, von überall her Zugang hat und mitreden kann, aber nie das letzte Wort bekommt.
Hier werden nicht nur Nachtkritiken geschrieben, die am nächsten Morgen auf der Seite stehen, sondern auch die Kritiken aus anderen Medien zusammengefasst. Es gibt Hintergrundstücke, Diskursreihen, Theaterbriefe aus der ganzen Welt, ein Archiv, ein Lexikon und vieles mehr. Das Projekt wurde zu seinem Lebenswerk, in das er Zeit und Nerven steckte. Bis zuletzt hielt er die Fäden in der Hand.
Nachtkritik ist heute aus dem deutschen Medienkosmos nicht mehr wegzudenken, es hat sich zum einzigen digitalen und überregionalen, spenden- und werbefinanzierten Theaterfeuilleton entwickelt. Es verfügt über Korrespondenten in den letzten Ecken der deutschsprachigen Republik, in die sich schon lange kein Kulturredakteur verirrt hat – und wo noch immer Theater gespielt wird. Und es stellt ein Forum zur Verfügung, in dem Leute miteinander streiten, die ohne Nachtkritik große Schwierigkeiten hätten, jemanden zu finden, dem sie ihre Meinung geigen könnten.

