Venedig hat seine Biennale wieder – bis November darf sich von den Gärten am Ostrand und bis in die Lagunenstadt wieder alles um die Kunst drehen. Mit einem Jahr Verspätung fiel die Entwicklung der Ausstellung mit der Covid-Pandemie in eine Zeit der Instabilität und Unsicherheit. Seit ihrem Bestehen 1895 war die „Mutter aller Biennalen“ nur in den Kriegsjahren der beiden Weltkriege ausgesetzt worden. Umso gespannter ist man jetzt auf ihre 59. Ausgabe in den Giardini und im Arsenale, in den langen Backsteinhallen der ehemaligen Schiffswerften der Serenissima, wo insgesamt 80 Nationenpavillons bespielt werden – einige davon zum ersten Mal.
Cecilia Alemani hat als erste Italienerin die Leitung der Weltkunstschau übernommen und dafür 213 Künstlerinnen und Künstler eingeladen, mit rund 1500 Werken. Das sind nur Zahlen, noch keine Kunst. Sie zeigen aber auch die überbordende Fülle, die große Lust auf Kunst und verweisen auf die Tatsache, dass Vorbereitungen und Gespräche hauptsächlich digital stattgefunden haben.

Es geht um das Überleben der Spezies
Dass die Biennale nun eröffnet, sei jedoch keine Rückkehr zum normalen Leben, sagt Alemani, sondern „das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung, die fast wie ein Wunder erscheint.“ Die 45-jährige Wahl-New-Yorkerin war zuvor als künstlerische Leiterin des High Line Parks aufgefallen, der auf einer ausrangierten Bahntrasse im Süden von Manhattan angelegt wurde. Und 2017 in Venedig mit ihrer Ausstellung im italienischen Pavillon. Um nun diesen besonderen Moment der aktuellen Geschichte einzufangen, in dem es um nichts Geringeres geht als die Bedrohung des Überlebens der Spezies, kreisen Alemanis Fragen um die des Menschseins, um Pflanze, Tier und die Verantwortung gegenüber dem Planeten und anderen Lebensformen.
„The Milk of Dreams“ ist die Ausstellung überschrieben. Der Titel bezieht sich auf ein Kinderbuch der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington (1917–2011). Darin sind Geschichten von Metamorphosen versammelt, von einer magischen Welt, von Natur und Transformationen, in der sich Menschen in Tiere verwandeln – und umgekehrt. Carringtons Zeichnungen, die in einem gelben Kabinett ausgestellt sind, zeigen eine befreite Welt voller Möglichkeiten. Sie selbst sei das Produkt der Begegnung ihrer Mutter mit einer Maschine, so wird sie hier zitiert – was auf dieselbe bizarre Vereinigung von Mensch, Tier und Mechanik hindeutet, die einen Großteil ihrer Arbeit kennzeichnet.
Carringtons jenseitige Wesen auf ihrer Reise durch die Metamorphosen von Körpern und Definitionen des Menschen zu folgen, manifestiert sich in einer Vielzahl großformatiger Werke, Installationen, Wandbilder und Skulpturen. Eine Skulptur steht da fast exemplarisch für diese Biennale ganz am Anfang der Ausstellung im Zentralpavillon in den Giardini.
Dort empfängt ein riesiger grüner Elefant der Künstlerin Katharina Fritsche wie ein Denkmal auf einem hohen Sockel das Publikum in der Rotunde, ringsherum umgeben von wandhohen Spiegeln, sodass das Tier sich unendlich oft vervielfältigt. An dieser Arbeit ahnt man schon etwas von der Überwältigungsstrategie, die an der einen oder anderen Stelle auch etwas überfordert. Fritsche wird an diesem Sonnabend mit einem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk geehrt, zusammen mit der Kolumbianerin Cecilia Vicuña.

Durch die „Milch der Träume“
Als eine Art Rhythmusgeber hat Alemani für die Reise durch „die Milch der Träume“ sogenannte Zeitkapseln eingebaut. Fünf historische Abschnitte, Miniatur-Konstellationen von Kunstwerken, Fundstücken und Dokumenten sind zu Themen wie Mensch und Natur, Mensch und Technik gruppiert und bilden Referenzen und Echos innerhalb der Schau. Die Choreographie der Räume entstand zusammen mit dem Designduo Formafantasma. Die Kabinette, mal oval geformt wie ein Ei, mal klassisch museal, regen auch zum Nachdenken darüber an, wie die Kunstgeschichte um Museums- und Ausstellungspraktiken herum konstruiert wird und dadurch Geschmackshierarchien etabliert.
Im Zentralpavillon ist es ein mit ockerfarbenem Teppichboden ausgelegter Raum mit Werken in Vitrinen von Künstlerinnen der Avantgarde-Bewegungen, von Claude Cahun, Dorothea Tanning und Josephine Baker, Valentine Penrose oder Mary Wigman. Das Zeitgenössische suggerieren Arbeiten von Birgit Jürgenssen oder Andra Ursuţa. Bild gewordene Mutantenkörper, Verschmelzungen des Organischen mit dem Künstlichen, wie Vorboten einer zunehmend entmenschlichten Zukunft, während in einem Raum darüber die rumänische Performance-Künstlerin Alexandra Pirici sechs Darstellende zum Thema Symbiose tanzen lässt – mit Körpernähe zu einem neu empfundenen Gemeinschaftsgefühl.
Auffallend ist, dass diese Biennale zum ersten Mal in ihrer 127-jährigen Geschichte eine Mehrheit von Frauen und non-binären Künstlern umfasst, eine Auswahl voller kreativer Gärung, die vielleicht ein bewusstes Überdenken der Stellung des Menschen in der Kunstgeschichte widerspiegelt. So wird auch das Entree in den Arsenale von Künstlerinnen bespielt. Die eisengraue, hohe Frauenkopf-Skulptur „Brick House“ der US-Amerikanerin Simone Leigh ist umgeben von Belkis Ayóns großformatigen Collografien.
Sie zeigen gesichtslose, androgyne Figuren in mythischen Szenen. Die Kubanerin, die sich 1999 mit nur 32 Jahren das Leben nahm, erforschte und unterwanderte darin die afro-kubanische Bruderschaft von Abakua. Beeindruckende, überdimensionierte Tonofen-Skulpturen aus in der Sonne getrocknetem, roten Ton des Argentiniers Gabriel Chaile sind inspiriert von präkolumbianischer Kunst und porträtieren seine Familie. Flankiert werden sie von den mysteriösen Traummalereien von Portia Zvavahera.
Immer neue Raumkonstellationen führen durch die schwierig zu bespielenden Cordiere des Arsenale – mit zum Teil sensationellen Arbeiten. Wie etwa Kapwani Kiwangas „Terrarium“. Halbtransparente, gelb-bläulich changierende raumhohe Malereien sind eine nach der anderen schräg in den Raum gespannt und bilden einen schwebend immersiven Wüstensonnenuntergang. Dazwischen sind Glasskulpturen zu sehen – mit Sand gefüllt. Für die Franco-Kanadierin und Anthropologin ist Sand ein politisches Material, ein schädliches Produkt der Ölindustrie, das an einen vertrocknenden Planeten erinnert.

Dadaisten und Kolonialismuskritik
In der Zeitkapsel zu Cyborgs sind interessanterweise zwei Collagen der Dadaisten Hannah Höch ausgestellt. Die Südkoreanerin Mire Lee lässt tropfende und spuckende Maschinen wie Gedärme aussehen. Und ein mit neongrünem Licht gefluteter Säulenraum beherbergt vier animalistische Wächterfiguren von Sandra Mujinga. Barbara Kruger wiederum konfrontiert in einer Rauminstallation aus Text und Video mit einer entkörperten Stimme. Die in grafischem Schwarzweiß tapezierten Wände kontrastieren hart und entwickeln dennoch einen psychedelischen Sog.
Und dann wuchert da dieser wundersam echte Garten „To see the Earth before the End of the World“ von Precious Okoyomon. Die Pflanzen wachsen, erobern sich den Raum neu, und wer weiß, wie sie im November aussehen. Es gibt hier wahrlich viel Kunst für die Sinne und wenig Digitales. Zuletzt auch noch in den Arkaden des Hafenbeckens Gaggiandre. Dort tönen Laute und Gesänge von Walen aus Wu Tsangs Erforschung von Melvilles Moby Dick.
Aber auch bei den Nationenpavillons in den Giardini werden Metamorphosen deutlich. Etwa im Deutschen Pavillon mit Maria Eichhorn oder durch Migration. So haben die Niederländer ihr Gebäude den Esten überlassen, weil Neue in den Giardini ja keine Chance mehr auf einen eigenen Pavillon haben – auch das, so lautet die Argumentation, ist eine Form von Kolonisierung. Die Arbeit von melanie bojanes ist deshalb in die Chiesa della Misericordia im Viertel Cannareggio um- und eingezogen, dorthin wo die queere, nicht-binäre, niederländische Künstlerin, Feministin und sexologische Körperarbeiterin eine wunderbare, kritische Videoarbeit in einer Liegelandschaft zum Thema Berührung präsentiert – hautnah und äußerst sinnlich.
Der Nordische Pavillon wurde erstmals Künstlern der Sámi, die seit langem um ihre Lebensgründe am Polarkreis kämpfen, überlassen. „Was mit dem Land passiert, passiert mit uns“, steht da. Die Werke beschäftigen sich explizit mit dem politischen Anliegen des indigenen Volkes. Hängende Objekte aus Tierpräparaten, Gräsern, Fellstücken und Häuten vermitteln zudem unmittelbare Sinneseindrücke. Zwei Mähnen-Haarbüschel von Rentieren beeindrucken durch ihren Geruch. Das eine riecht nach Heu und steht für Hoffnung. Das andere riecht streng – es steht für Angst, nicht nur die des Tieres.

Der Ukraine-Krieg hinterlässt Spuren in Venedig
Angst herrscht auch im Krieg. Und der Krieg in der Ukraine hinterlässt selbst auf dieser Biennale seine Spuren. Als erstes hatte es den russischen Pavillon getroffen. „Dieser Krieg ist politisch und emotional unerträglich.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der litauische Kurator Raimundas Malasauskas von der Venedig-Biennale. Der russische Pavillon bleibt also leer, der ukrainische hingegen nicht.
Er ist sogar doppelt vertreten. Im Arsenale mit der Installation „Brunnen der Erschöpfung“ von Pavlo Makov. 105 Bronzetrichter, die der Künstler auf seiner Flucht aus dem umkämpften Charkiw nicht mitnehmen konnte, die dann aber von der Kuratorin Maria Lanko gerettet und nach Venedig gebracht wurden, sind in Form einer Pyramide an einer Wand montiert. Oben läuft Wasser in die Trichter. Je weiter es nach unten läuft, umso weniger kommt an. Am Ende sind es nur noch Tropfen. Ein schlichtes, vielschichtiges Kunstwerk. Markovs Idee war als Metapher für den Zustand in der Post-Sowjetzeit gedacht – für Infrastruktur-Ruinen, kulturelle Auslöschung, Klimakollaps und Krieg. Heute sei es eine politische Erschöpfung, eine Erschöpfung der Umwelt und nicht zuletzt der Menschlichkeit, sagt der Künstler.
Ganz schnell auf die Beine gestellt wurde in den Giardini eine Art Denkmal, das dicht mit Sandsäcken bedeckt auf der „Piazza Ukraine“ steht. Und eine Ausstellung des PinchukArtCentre aus Kiew in einer Kirche von drei Künstlerinnen, die in der Ukraine geblieben sind und weiter arbeiten. Die Motive ihrer Bildwerke zeichnen sich aus dem Krieg.
