Altersforscher sind sich einig: Für lange Lebensfreude braucht es sowohl einen bewegten Körper als auch einen bewegten Geist. Zu einer gewissen Offenheit neuen Dingen gegenüber darf also geraten werden. Und dabei geht es weniger darum, mal ein besonderes Olivenöl aus dem Feinkostladen auszuprobieren, als vielmehr, sich auf neue Ideen, Perspektiven und Erfahrungen einlassen zu können. Sich mal herausfordern zu lassen.
Also: Kaufen Sie gern das absurd teure Olivenöl, aber reiben Sie damit zur Abwechslung doch mal Ihren Partner ein, anstatt eines Lammrückens. Und wenn sie jetzt denken: „Das macht aber Flecken im Bett!“, dann nutzen Sie den Impuls und probieren Sie es auf dem Küchentisch!
Für mich kam die letzte Herausforderung dieser Art via Instagram: „Hey!“, schrieb mir M. „Eine Freundin von mir ist Künstlerin und bietet einen Penis-Keramikworkshop an. Vielleicht hast du Lust, das mal auszuprobieren? Hier der Link“
Ich schloss die App. Ich öffnete die App. Was? Ich hatte mich nicht verlesen. M. schlug vor, ich solle einen Penis aus Ton formen. Wie kam er denn auf so was? Zugegeben: Unsere Freundschaft ist von einer provokanten Offenheit geprägt. Schon bei unserer ersten Begegnung hielten wir uns nicht lange mit Smalltalk auf. Andere würden es Oversharing nennen, für uns fühlte sich das ganz normal an. Aber jetzt hoffte ich doch, dass seine Nachricht kein verstelltes Dickpic enthielt. Ich klickte mit halb zugekniffenen Augen auf den Link.
Ein unangenehmes Gefühl, tief aus dem Unterbewusstsein
Ein Instagram-Post öffnete sich. Auf den Bildern waren junge Menschen in heimeliger Atmosphäre abgelichtet. Sie saßen bei Wein und Bier zusammen, lächelten sich zu. Es hätte sich um ein WG-Abendessen von Philosophie-Studierenden handeln können – wären da nicht die mächtigen Pimmel zwischen ihnen auf dem Tisch gewesen.
Geschlechtsteile modellieren! Warum tut man das? Meine erste Reaktion auf die Pimmel-Plastiken hinter dem Link war nicht etwa Erregung, Scham oder Belustigung. Das Gefühl war diffuser, unangenehmer, es kam tief aus meinem Unterbewusstsein. Schon als junge Frau hat man mich vor Penissen gewarnt. Die können gefährlich werden! Einige reiben sich im Bus an arglosen Körpern. Manche drängen sich ohne Zustimmung in digitale Postfächer oder, im schlimmsten Falle, in Frauen.
Hatte ich etwa Angst vor Schwänzen? Besaß ich deswegen keinen Dildo? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Konfrontation. Und weil der Umgang mit toxischer Männlichkeit und männlichen Genitalien außerhalb von Sex nicht nur für mich Anlass zur therapeutischen Selbstbefragung zu sein scheint, bewirbt Daniela Torres ihren Ceramic Dick Sculpture Workshop mit dem Slogan „Art as therapy“.
An einem Samstagnachmittag besuchte ich also das Studio der Berliner Fotografin und Keramik-Künstlerin. Unsere Gruppe war mit sechs Personen eher klein, aber international. Neben Deutschen saßen Menschen aus Portugal, Australien und den USA am Tisch. Daniela selbst kommt aus Ecuador. Wir sprachen Englisch. An den Wänden des Ateliers hingen einige Foto-Arbeiten der Künstlerin: Bilder von Männern, deren verträumt inszenierte nackte Körper eine verletzliche Männlichkeit offenbaren, mit Blumen geschmückte Penisse in Nahaufnahme, Collagen.
Von unserem kühnen Mut zur Teilnahme beflügelt, begegneten wir uns betont unbefangen und stellten ganz selbstverständlich genau die gelöste Stimmung her, die ich schon von dem Instagram-Post kannte. Torres begann zu erzählen, wie sie die künstlerische Arbeit mit dem Thema Nacktheit als Frau erlebt. Sie interessiert die Frage: Was bedeutet es, wenn eine Frau einen nackten Mann fotografiert? Als sie 2015 die Arbeit an ihrem Fotoprojekt „BOYS“ begann, unterstellten ihr manche Kollegen und Partner, sie würde sich damit schlicht an Männer ranmachen wollen.
In der Realität verboten einige Modelle, die sie für ihre künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Maskulinität fotografierte, der Künstlerin später das Ausstellen der Arbeiten, nachdem sie ihre Avancen nicht erwidert hatte. „It’s a power game“, erklärte sie, ein Machtspiel. Diese Erlebnisse führten zur Entwicklung der Ceramic Dicks und den Workshops. Für Torres ist diese Form der Auseinandersetzung mit dem Thema Männlichkeit eine Form der Verarbeitung, kreative Therapie.
Fünf Zentimeter über der Durchschnittslänge
Wir erhielten unseren Ton. Die Aufgabe war klar, jede Idee willkommen. Es gab keine Anleitung. Wer bei anatomischen Fragen Hilfe brauchte, schielte auf die Fotos. Handwerklich half die Künstlerin. Und plötzlich war die Atmosphäre dann doch ein wenig mit Verlegenheit angereichert, denn auf den Arbeitsbrettchen entstand nun eben genau das, was man reflexhaft im Kopf hat, wenn man Pimmel oder Penis denkt. Sobald die Dinger Form annahmen, und das ging ziemlich schnell, war quasi ein unsichtbares Nacktmodell mit im Raum.
Die Portugiesin war die erste, die uns erzählte, wer die Inspiration zu ihrem Werk geliefert hatte: ihr Ex. „Ich wollte den Kurs schon lange machen, hatte aber Liebeskummer und keinen Bock, diesem Schmerz auch noch ein Denkmal zu setzen. Für mich ist das heute eine Art Abschlussritual. Ich denke, ich stelle ihn auf den Nachttisch“, erklärt sie. Ein phallisches Zeichen der Heilung neben ihrem Bett. Bravo! Wir stießen an.
Nach der Formvollendung suchte jeder eine Glasur aus, die dem guten Stück den finalen Glanz verleihen sollte. Wir waren stolz. Ein Blick in die Pimmelrunde offenbarte zudem: Fünf von sechs Skulpturen zeigten einen erigierten Penis. Alle waren recht stattlich. Ein Zentimetermaß kam zum Einsatz. Mit durchschnittlich 18 Zentimetern für die aufragenden Kunstwerke lagen wir rund fünf Zentimeter über der Durchschnittslänge.
14 Tage später hole ich meinen Penis ab. Er glänzt in erhabenem Silber. Ich finde ihn wunderbar anmutig und mich gleichzeitig sehr verwegen, wie ich ihn so nonchalant am Schaft halte. Ich bin fest entschlossen, meinen Ceramic Dick zu Hause im Wohnzimmer aufzustellen. Und auf dem Heimweg will ich noch richtig gutes Olivenöl besorgen




