In einem offenen Brief, der der Berliner Zeitung vorliegt, stellen sich um die 50 jüdische Personen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft hinter die Kulturstaatsministerin Claudia Roth – darunter teils berühmte Namen wie Daniel Barenboim, Barrie Kosky und Igor Levit, Eva Menasse, Susan Neiman oder Eva Illouz.
Der Hintergrund: Roth war am vergangenen Freitag in Frankfurt am Main bei der sogenannten Jewrovision, einer Großveranstaltung der deutschen jüdischen Gemeinde, beschimpft und ausgebuht worden. Auf sozialen Medien war die Geste augenblicklich als Reaktion auf die teils scharfe Kritik des Zentralrats gegenüber Roth interpretiert worden, insbesondere nachdem auf der – vom Bund mitfinanzierten – Kunstausstellung documenta 15 in Kassel mindestens ein Kunstwerk mit antisemitischen Bildinhalten ausgestellt worden war. Die hatte 2022 für heftige bundesweite Debatten über die Grenzen der Kunstfreiheit und über kuratorische Verantwortung im deutschen Kontext gesorgt.
Die Kritik des Zentralrats an Roth reicht jedoch weiter zurück: So hatte die Politikerin 2019 nicht für die Resolution des Deutschen Bundestages gestimmt, welche die Israel-Boykott-Bewegung BDS als antisemitisch einstufte und forderte, dass BDS in Deutschland von öffentlicher Förderung ausgeschlossen bleibe. Man hielt ihr zudem vor, dass sie sich nicht kritisch zu der 2020 gebildeten Initiative GG 5.3 Weltoffenheit geäußert habe, mit der hochrangige Kulturinstitutionen wie das Haus der Kulturen der Welt, das Goethe-Institut oder der DAAD sich gegen ebenjene BDS-Resolution des Bundestages wandten. In den Augen der Initiative fördere die Resolution ihrerseits eine Art Boykottlogik und erschwere konkret die Förderungs- und Einladungspraxis in einem auf Internationalität ausgerichteten Kulturbereich.
Josef Schuster wird im offenen Brief kritisiert
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, wird in dem offenen Brief kritisiert. Er habe die Staatsministerin als Einladender auf der Veranstaltung weder namentlich begrüßt noch etwas dafür getan, dass Roth ihre Rede störungsfrei abhalten konnte. „Protest ist das eine, die niedergebrüllte Rede eines geladenen Gastes etwas anderes“, schreiben die Unterzeichnenden. Schuster habe damit nicht zuletzt auch gegen ein Gebot im Judentum verstoßen – nämlich den anderen nicht bloßzustellen (Halbanat Panim).
Auf Twitter waren infolge des Eklats Stimmen laut geworden, die Roths Absetzung forderten. Der Spiegel schrieb, die Wut auf die Ministerin sei verständlich, wegen Sorgen, dass sie „Antisemitismus hoffähig“ machen könnte. Andere wiederum verwiesen auf die politische Instrumentalisierung des Vorfalls durch FDP und CDU sowie durch konservative Verbände wie die Deutsch-Israelische Gesellschaft oder die NGO Werteinitiative. Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin sprach von einem „inszenierten Eklat“.
Im Kontext jener Debatte stellen die Unterzeichnenden des offenen Briefs sich jetzt hinter Roth. Ihre politische Biografie künde unmissverständlich von einem lebenslangen Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus. „Ohne mit allem, was sie tut, einverstanden zu sein: Ihr ist es unter anderem zu verdanken, dass die künftige Arbeit von Gedenkstätten und Institutionen, die sich mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen befassen, abgesichert ist.“
Explizit kritisch wird in dem Brief auch die reduktive Art und Weise bewertet, wie die Debatte um Roth im deutschen Medienkontext gerade geführt wird: „In Zeitungskommentaren werden ‚die Juden‘ nun wieder auf eine Stimme reduziert, indem behauptet wird, ihre Sorgen über Antisemitismus im Kulturbetrieb würden von Claudia Roth nicht ernst genommen.“
Bei allen berechtigten Sorgen um wachsenden Antisemitismus könne Roth nicht für umstrittene Inhalte verantwortlich gemacht werden. Zudem bräuchten Kulturschaffende eine politische Umgebung, in der sie ungehindert arbeiten können. „Viele Juden gestalten in Deutschland den Kulturbetrieb mit – es muss liberaler Konsens bleiben.“
Das Judentum, so betonen sie, lebe seit jeher von Vielstimmigkeit, Pluralismus und Debatte. Und: Mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Juden gehörten weder einer jüdischen Gemeinde an noch unterstützten sie die „partikularistische Politik“ des Zentralrats, lehnten letztere sogar ab. „Wir alle müssen auf einer zivilisierten, respektvollen Debatte bestehen und können sie nicht nur von den anderen verlangen.“


