Porträt

Und hinterm Kudamm Twin Peaks: Ava Vegas mit ihrem neuen Album „Desert Songs“

Die Berliner Art-Pop-Songwriterin Ava Vegas denkt sich mit ihrem zweiten Album als surreale Country-Gitarristin neu.

Die Musikerin Ava Vegas
Die Musikerin Ava VegasEdda Pettursdottír

Falls Ava Vegas alias Sarina Giffhorn es mit der Wahl der Location zum Gespräch darauf angelegt haben sollte, das sich seit ihrem ersten Album 2020 verdichtende Bild, sie sei die Berliner Antwort auf Lana Del Rey, aufzulösen: Das hat nicht funktioniert. Das Reinhard’s am Kudamm, ganz alte West-Berliner Schule, früher Promi-Treffpunkt, heute mittelhochpreisiges Touricafé: Mehr wie einer der von der Zeit zerschlissenen Country-Clubs aus dem retro-mystischen Universum des amerikanischen Superstars kann’s in dieser Stadt ja gar nicht mehr werden.

Ein wenig Nostalgie ist tatsächlich dabei. Das Reinhard’s schließt nämlich bald, wie so viele ihrer Lieblingsorte im Westen, zumindest vorübergehend: das Einstein-Stammhaus, die Victoria-Bar in Schöneberg. In der Faszination für diese Orte treffen sich ihr erlernter und ihr künstlerischer Beruf. Giffhorn studierte Architektur an der UdK, arrangiert heute komplexe Kulissen für ihre Shows, mit Duftkerzen, Ventilator und DDR-Liege, und spielt einen Pop, der allenfalls oberflächlich mit Lana Del Rey verbunden ist. Frau mit tiefer Stimme und Melancholie, na gut, so tickt die männlich geprägte Presse eben. Die Weird-Pop-Grande-Dame Weyes Blood oder die Folk-Songwriterin Jessica Pratt stehen ihr ästhetisch eigentlich viel näher.

„Ich habe einen Blick für alles, was aus dem Raster fällt“, sagt sie. „Wenn etwas wie eine Filmkulisse aussieht, wenn Orte etwas Komisches haben, wenn man glaubt, man macht einen Schritt und ist in einer Paralleldimension, in einer Twin-Peaks-Welt, da bin ich neugierig.“ Gegenüber kämpft das Chinarestaurant Ho Lin Wah mit rotem Neonschriftzug über Gründerzeitportal gegen die generische Öde des Boulevards. Darauf zeigt die Musikerin, so als Beispiel. Und ja, so klingt auch Ava Vegas’ Musik: irgendwie retro, irgendwie surreal. Dokumentarische Fotografie, aber die verwaschene Hand verweist auf die KI dahinter. Das Album beginnt mit dem Sound eines Schwarzen Lochs.

Ava Vegas brachte sich im Lockdown auf Island das Gitarrespielen bei

„Desert Songs“ heißt ihr Zweitwerk. Der Sound ist seit ihrem ersten Auftritt geshiftet, schon als ihr selbstbetiteltes, glamourös-ironisches Art-Pop-Debüt erschien, steckte sie tief in Experimenten: „Ich hatte diese Welt schon in mir. Ich habe diese Idee gehabt, Wüstensongs zu machen. Und dazu gehört natürlich eine Gitarre. Und dann habe ich mir Gitarrespielen beigebracht.“ Das war im Lockdown, das war auf Island, und wenn es auch eine schöne Eso-Geschichte gibt, wie sie in Reykjavík zu ihrer Gitarre kam (ein „du wirst spüren, welche deine ist“ im Weltladen), letztendlich ist es genauso wichtig, wie die App heißt, mit der sie sie spielen lernte, „Justin Guitar“.

Ava Vegas
Ava VegasEdda Pettursdottír

Auch typisch Ava Vegas nämlich: Die Programme, mit denen digitale Gebäudemodelle konstruiert werden, sind strukturell den komplexen Tools ganz ähnlich, mit denen Songs am Computer ihren Klang finden, es pulsiert Giffhorns architektonisches Mindset durch ihre Kunst. Aber dennoch war diesmal etwas anders: „Zum ersten Mal war es so, dass ich mich treiben lassen konnte, einfach auf dem Bett saß, stundenlang, und es inspirierend fand und schön. Sonst strengt es mich schon an, Musik zu machen. Weil ich gleich selbst produziere und mir immer alles gleichzeitig selbst beibringe. Das war bei der Gitarre anders. Ich war plötzlich in einer anderen Welt.“

Der Ortswechsel hat durchaus dazu beigetragen. Auch Island ist eine Wüste, eine Eiswüste eben. Später verbrachte sie viel Zeit in Kalifornien. In Joshua Tree, „der Uckermark von Los Angeles“, in der Mojave-Wüste besucht sie Raves der lokalen Kunstszene. „Ich bin da ziemlich gerne, ich finde es inspirierend. Aber für ‚Desert Songs‘ hätte ich es eindimensional gefunden, alles in der kalifornischen Wüste zu machen, die man sich genau so vorstellt. Meine Wüste für das Album würde ich am liebsten nirgendwo verorten. Oder im Weltraum. Eine Alien-Wüste. Ein Nicht-Ort, endlose Weite, nichts.“

Ava Vegas beschreibt sich als „wahnsinnig feministisch“

Nun sind Gitarre und Wüste allzu oft auch Zentrum überkommener Weltbilder. Selbst für Ava Vegas scheint die Gitarre ein Marker von Authentizität zu sein, von Intimität. Wie lässt sich diese Musik heute denken, ohne diesen Ballast? Zumal ihre Texte oft von melancholischen Abschieden, gescheiterten Beziehungen handeln, alte Folk-Country-Schule als Konzept. „Ich bin wahnsinnig feministisch, in dem Sinne, dass ich alles selbst mache, mich selbst manage, den Großteil selbst produziere. Das ist die Botschaft. Ich muss das nicht in meine Texte reinpacken, weil ich es lebe. Ich habe das Gefühl, ich strahle das aus.“

Dabei strahlt sie beim Erzählen von ihren Reisen weniger lynchianische Pop-Diva aus als Professorenkind aus Göttingen, das sie ja nun auch ist. Wobei natürlich auch der Harz, an dessen Rand sie aufgewachsen ist, ein Ort ist, an dem sich Twin-Peaks-Surrealismus und altdeutsche Romantik in tiefen Tälern umarmen. Und ihr Vater scheint einer jener eigentlich post-akademischen Freigeister zu sein, wie sie das Uni-System in den 80ern für eine kurze Zeit hervorbrachte, mit viel DIY-Attitüde, die sich übertragen hat.

Oder, um es einmal herunterzubrechen: Ava Vegas’ Erfolg ist aus feministischer Perspektive richtig gut, aus klassismusbewusster Perspektive auf in Deutschland übliche Art schwierig, aus musikalischer aber völlig verdient. „Desert Songs“ ist ein Album, das noch nicht ganz aufschließt zu den Ikonen, an denen es sich anlehnt, das aber eine Künstlerin im steten Werden zeigt. Das zwar noch oft an Etabliertes anschließt, aber deutlich von einem kreativen, experimentellen Geist zeugt. Das dritte Album wird was mit Disco, verrät sie, und insgeheim hört man doch schon die Aliens landen. Vermutlich angelockt vom drehenden Stern auf dem Europa-Center. Spätestens dann wird das hier ganz groß.

Das Album „Desert Songs“ erscheint am 28. April 2023.