Pop

Gays, Geister und Gitarren: Der Berliner R&B-Sänger Marshall Vincent mit neuer EP

Über Chicago und New York kam er nach Berlin. Nun ist er einer der spannendsten Musiker der Stadt. Wir haben Marshall Vincent in Kreuzberg besucht.

Anschmiegsam: Marshall Vincent mit seiner Lieblingsgitarre.
Anschmiegsam: Marshall Vincent mit seiner Lieblingsgitarre.Markus Wächter

Als Marshall Vincent uns die Tür öffnet zu seiner Kreuzberger Altbauwohnung in der Gneisenaustraße, strahlt er überraschend entspannt. Sein Agent hatte verschwitzt, ihm mitzuteilen, dass wir einen Fotografen mitbringen. Erst eine halbe Stunde vor unserem Treffen hat Marshall Vincent von uns per Kurznachricht davon erfahren. Andere Pop-Newcomer, oft Kontrollfreaks über ihre medialen Bilder, hätten da sicher nicht mitgespielt. „Kein Problem“, schrieb Marshall Vincent hingegen. „Ich räume nur noch schnell auf.“

Marshall Vincent ist erst frisch nach Kreuzberg gezogen. Vorher war er in der hippen Neuköllner Weserstraße heimisch. Doch auch der neue Kiez passt sehr gut: Unweit von seiner Wohnung war ja einst die berühmt berüchtigte Schwulen-Arbeiterkneipe namens Cosy Corner, in der Zossener Straße 7, wo in den Goldenen Zwanzigern die britischen Poeten W.H. Auden und Christopher Isherwood („A Single Man“) abhingen. Und wie Isherwood und Auden ist auch Marshall Vincent ein Expat in Berlin, der uns in seinen Lyrics vom schwulen Liebesleben erzählt. Seine experimentellen und dabei doch sehr anschmiegsamen R&B-Songs, auch auf der nun im Januar erscheinenden EP „Disband“ (zu Deutsch: „Auseinandergehen“) hören sich an wie ein Psycho-Memory seiner Ex-Freunde. Diskret genug, um keine Namen zu nennen. Aber doch mit expliziten Emo-Details.

Was Marshall Vincent eine Zeitlang gar nicht abkonnte: naheliegende Vergleiche mit Frank Ocean. Dem großen queeren R&B-Gott. „Es waren eben viele weiße Leute“, sagt er, „die mich dann mit dem einzigen Schwarzen alternativen queeren R&B-Sänger verglichen, den sie kannten. Ich dachte: Kann ich nicht einfach ich selbst sein? Kannst du eine Referenz nennen, die nicht so sehr auf der Hand liegt?“ Er liebt Kate Bush, Fiona Apple, Laura Marling und die frühen Songs von Tori Amos. Aber auch mit Frank Ocean hat er seinen Frieden gefunden. Inzwischen nimmt er die Vergleiche als die Komplimente an, als die sie meist wohl auch gemeint sind.

Im sonnenblumengelben Kuschelpulli: Marshall Vincent
Im sonnenblumengelben Kuschelpulli: Marshall VincentMarkus Wächter für Berliner Zeitung Wochenende

Während unseres Fotoshootings zieht sich Marshall Vincent ein paar Mal um: weißes Feinripp-T-Shirt, sonnenblumengelber Kuschelpulli und das schwarze Samt-Shirt, in dem er sich schließlich an seine Gitarre schmiegen und sie knutschen wird. Zwischendurch legt sich auf seinem Körper ein Tattoo frei: der Farbcode FF0000, der (wie Webdesigner wissen) für die Farbe Rot steht. Rot wie Marshall Vincents liebster Power Ranger einst, als er ein Kind war. Rot wie der Koffer, mit dem er am 6. September 2016 in Berlin strandete. „Ich nehme auch meistens bei rotem Licht auf“, sagt Marshall Vincent mit Blick auf die Ecke in seiner neuen Wohnung, wo seine Instrumente stehen, unweit seines Rechners und eines edlen Mikrofons im mannshohen Ständer. „Rotlicht erzeugt kaum Störgeräusche“, sagt Marshall Vincent. Eine Frage elektrostatischer Ladung. „Und es fühlt sich sexy an.“ Er schmunzelt. „Weißes Licht hingegen sirrt.“

Er kennt sich aus mit Sounds und damit, wie er seine Stimme klar hält. Lang genug musste er als schwuler Schwarzer Mann darum kämpfen, gehört zu werden. „Als Kind habe ich nicht so viel darüber gesprochen, wie ich mich fühle“, sagt er, als wir auf dem kleinen Ledersofa seiner Wohnung sitzen. „Bis ich gelernt habe zu schreiben. Ich bin oft konfliktscheu und harmoniebedürftig. Also sprach ich oft nichts an, was diese Ruhe hätte stören können. Meine Weise, dennoch darüber zu sprechen, war die Kunst.“

Dann erzählt er davon, wie er im Alter von neun Jahren begann, Bratsche zu spielen, auch bei Familien-Barbecues, und immer den Crescendo-Stellen, also denen, an denen es zunehmend lauter wurde, entgegenfieberte. „Crescendo, crescendo, crescendo“ singt er himmelhochjauchzend, als er sich erinnert. „Meine eigene Kindheit war rückblickend nicht so einfach, wie ich als Kind meinte“, sagt er. „Vieles, was in mir vorging, wussten meine Eltern nicht. Das schlägt sich bis heute in Beziehungen nieder. Man hat mir beigebracht zu funktionieren. Aber ich war lange nicht bereit, mich wirklich jemandem zu öffnen.“ Auch das ist sicher etwas, womit sich viele (nicht nur schwule) Singles in Berlin identifizieren können.

Heute ist der 30-Jährige nicht mehr der kleine Junge aus den Suburbs vor Chicago. Mit New York und L.A. ist er auch durch. Er ist einer der aufregendsten R&B-Musiker, die Berlin zu bieten hat, wie auch seine neue EP beweist. Aber so ganz schüttelt Marshall Vincent die Vergangenheit nicht ab. Man spürt es, etwa wenn er davon erzählt, wie sehr er zum Theater wollte, schon als elfjähriges Kind in der Theater-AG. Theater hat er schließlich auf dem College studiert. „Ich wollte so sehr performen“, sagt er. „Wir haben viel über unsere Charaktere gelernt, indem wir uns durch unsere eigenen Traumata gewühlt haben. Ich mochte besonders diese Rollen: dramatisch, trockener Humor, verschroben – im Grunde ich selbst.“

Auch auf der neuen EP geht es um die Welt seiner Erfahrungen – als liebender, hoffender, (ver-)zweifelnder schwuler Mann. „Jeder meiner Ex-Freunde hat mich mindestens zu einem Song inspiriert“, sagt Marshall Vincent und lacht bittersüß. Der Song „Trust“ existiert auf der EP gar in zwei grundverschiedenen Versionen: Als der Song harmonisch abdriftete, dichtete Marshall Vincent auf dem Klo auf seinem iPhone schnell auch einen neuen Text. „ETI“, ein anderer Song der EP, steht für „emotionally transferable infection“, emotional übertragbare Krankheit. Eine Wortschöpfung von Marshall Vincent in Anlehnung an sexuell übertragbare Krankheiten.

Dabei sprach erst mal nicht so viel dafür, dass Marshall Vincent ein Dichter wird: Das College brach er wie die Highschool ab – und ging mit 19 nach New York, jobbte als Schaufensterdekorateur. Storys voller Wodka und Pyjama-Partys. Er (nach Landesrecht minderjährig) treibt sich mit Fake-ID in Bars rum, wo er Songs schreibt. Auch in der Gay-Bar namens Metropolitan, wo er nach eigener Aussage ab drei Uhr nachts nur noch D.T.F. (down to fuck) war. Die ersten Songs spielt er nur sich selbst vor. Doch durch einen Kellnerjob in einem Sushi-Restaurant wird er leutseliger. Er verteilt seine selbstgebrannten CDs im Kollegium – was dazu führt, dass er im Cobra Club auftreten darf, einer Rockbar in Bushwick. „Für 20 Dollar pro Show und mit Freigetränken.“

Samtshirt und Samtstimme: Marshall Vincent
Samtshirt und Samtstimme: Marshall VincentMarkus Wächter für Berliner Zeitung Wochenende

Marshall Vincent beginnt damals zu verstehen: Wenn das mit der Musik richtig klappen soll, muss er sich ganz darauf konzentrieren. Keine halben Sachen mehr. Im Herbst 2016 kommt er nach Berlin mit seinem roten Koffer, um sich ganz der Musik zu widmen. Liebeslieder über Boys. „Berlin hat seine Macken“, sagt er, „aber Berlin ist auch der Ort, an dem ich echt gelernt habe, wer ich bin.“ Aber auch: dass man sich manchmal, wie auf seiner EP, noch mal den Gefühlsgeistern der Vergangenheit (für die man vielleicht noch Phantomgefühle hegt) stellen muss, um dann wahrlich bereit zu sein weiterzuziehen. Und manchmal zwischendurch sind eh Gitarren die besseren Guys, ob gay oder nicht.

Marshall Vincent: Disband. Lost Art Recordings