Till Lindemann beklagt den Status quo der Welt: Der Weihnachtsmann, den gibt es nicht. So muss es das lyrische Ich konstatieren in „Alles ändert sich ... ich nicht“. Lindemanns neues Solo-Lied (ohne seine Band Rammstein) lässt sich hören als Lamento auf eine entzauberte Kindheit in Zeiten globaler Erwärmung: „Jedes Jahr zur selben Zeit / Ach, die Kinder freuten sich. / Sangen Lieder, es schneite noch / Doch alles, alles ändert sich.“ Lindemann beschreibt die Welt wie sie ist und wird und wie er sie nicht will.
Wobei eine Zeile des Liedes ganz besonders hervorsticht inmitten des nostalgisch-adventlichen Klagegesangs: „Wie Unkraut sprießt der Feminismus“, heißt es zu Beginn von Strophe zwei. Ein thematischer Bruch? Lindemann setzt hier auf ein politisches Reizwort – und handelsübliche Kulturkampf-Semantik. Er muss wissen, dass er damit provoziert, na klar. Zumal er in feministischen Kreisen weithin Persona non grata ist. All das ist Teil seiner gut geölten Schockrocker-Provokationsmaschine. Der Ton des Liedes kippt an besagter Stelle: Aus melancholisch-resignativ wird polemisch-karikierend-plakativ. Unkraut, das ist eine aggressive Metapher. Deutlich schärfer als alles in dem Lied zuvor.
Unwahrscheinlich, dass die Feminismus-Zeile bloß versehentlich schlecht integriert wurde. Denn sie erfüllt mehrere für Lindemann typische Funktionen. Lindemann arbeitet seit Dekaden grob mit kalkulierter Grenzüberschreitung in seinen Gedichten und Liedtexten; mit bewusster Überzeichnung und mit Reizworten, die Reaktionen fast schon erzwingen. Die Zeile ist kein Argument, sondern ein Stachel.
Als Ersatz für den Weihnachtsmann: eine Weihnachtsfrau
Fairerweise gilt es literaturwissenschaftlich korrekt festzuhalten, dass der Text nicht zwingend aus Lindemanns eigener Haltung heraus spricht. Der real existierende Autor Lindemann ist nicht gleichzusetzen mit dem lyrischen Ich. Auf jeden Fall aber wird hier die Perspektive einer mit der Gegenwart überforderten, ressentimentgeladenen Figur eingenommen; mit dem Gefühl, nicht mehr mitzuhalten, sondern abgehängt zu sein. Somit spricht Lindemann sicher vielen aus der Seele.
Jetzt haben wir allerdings noch gar nicht über den finalen Twist gesprochen. Nach der Feminismus-Zeile geht es nämlich noch weiter: „Ich bin kein Freund von Pessimismus. / So forder’ ich, und das gar sehr / Eine Frau mit Bart muss her.“ Als Ersatz für den abgekanzelten Weihnachtsmann – ergo: eine Weihnachtsfrau. Mit Bart. Lindemanns lyrisches Ich gibt sich hier doch zukunftsgewandt genderflexibel – und hat anscheinend keine Probleme mit der Geschlechtsumwandlung der Schenk-Ikone im kulturellen Weihnachtsgedächtnis.
So schlimm reaktionär wie zunächst erwartet, ist das Lied dann vielleicht ja doch nicht. Wenngleich Lindemann die Weihnachtsfrau wie ein Lustobjekt anschmachtet; allerdings noch relativ harmlos, verglichen mit vielen seiner älteren Lieder. Ob Greta Thunberg Lindemann für dessen Schneefall-Klimawandel-Kritik applaudieren wird? Das steht allerdings noch mal auf einem anderen Blatt. Oder in den Weihnachtssternen.
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