Wie jeder weiß, ist das Beste am Hamburger die gute Dillgurke zwischen den beiden Brötchenhälften. Der Donnerstag, der zweite, mittlere Tag des dreitägigen Festivals Pop-Kultur ist also dafür prädestiniert, diese Dillgurke zu sein. Das Level an Schlafentzug und zu viel genaschten Gratis-Eiskugeln (oder wahlweise: erworbener Weinschorle) ist auch gerade noch so hoch beziehungsweise niedrig, dass es von der Sprüh-Gesichtslotion, die einer der Festival-Sponsoren ausgibt, gerade noch gerettet werden kann. Zumindest mag man sich das einreden.
Gegen Kapitalismus hilft nur Kapitalismus
Erste Überraschung zu Beginn des Abends, um 20 Uhr im Kesselhaus: Ja, Panik, die aus dem Burgenland stammende Berliner Band des Berliner Off-Kultlabels Staatsakt, kann auch ohne Schlagzeuger. Sollte man vielleicht lieber nicht dem Schlagzeuger sagen, der coronabedingt der Festivalbühne fernbleiben muss, aber: Ohne Schlagwerk gewinnen die Songs eine zusätzliche Klarheit, die ihnen gar nicht schadet. Schön ironisch, wie Andreas Spechtl (auf Englisch) davon singt, dass gegen Kapitalismus nur noch mehr Kapitalismus helfe. Dann kommentiert er auch die schlagzeuglose Formation des Festivalabends: „Es ist komisch, aber es macht auch Spaß!“ Anschließend gibt's sanglich die „Party nach der Party nach der Party“, aber es lohnt sich, den letzten Song zu skippen.
Denn: Da steht schon Grace Cummings auf der Bühne im Palais. Und ihre wilde Stimme dürfte eine der aufregendsten des Jahres, mindestens, sein: „Storm Queen“ heißt ihr zweites, 2022 erschienenes Album. Zu Beginn ihres Auftritts ab 20.40 Uhr wirkt die junge Australierin trotz Jeans mit Schlag noch so schüchtern und unscheinbar, dass man kaum glauben kann, welche Abgründe und Tiefendimensionen da in ihrer Stimme lauern. Sie klingt wie eine ausrastende Amy Winehouse, die dem Whiskey nicht abgeneigt ist. Ihr Blick kann eben so eindringlich werden wie ihr Gesang.
Wunderstimme und White Stripes
Grace Cummings kostet die tiefen Vokale mit ihrer Wunderstimme so aus, als würde sie ihre Finger tief in einen rohen Mürbeteig schieben, um ihn leidenschaftlich zu kneten, in Vorfreude auf den Kuchen. Highlight: Als sie die Gitarre zur Seite stellt und sich, ohne Bass und Drums und Gitarren, allein auf dem Stagepiano Nord Electro 6 begleitet zur Coverversion des herzzerreißenden „I’m Lonely (but I Ain’t That Lonely Yet)“ der White Stripes. Auch hier: Die Welt kann auch ohne Schlagzeug. Manchmal.
Das Panel „Ethik der Appropriation“ kommt übrigens auch ohne Schlagzeug aus. Wobei das Thema kulturelle Aneignung auf Twitter freilich so lautstark diskutiert wird, als hätten wir es gleich mit einer Horde oder Hundertschaft an Schlagzeugen zu tun. Stichwort: Darf man noch Winnetou lesen oder gucken? Die Kulturjournalistin Aida Baghernejad, der Popgott Jens Balzer (der just ein Buch zum Thema vorgelegt hat) sowie der (coronabedingt nur per Live-Video zugeschaltete) Künstler und Kulturanthopologe Julian Warner alias Fehler Kuti diskutieren, ein Glück, ohne gleich zu hyperventilieren, wie es bei dem Thema üblich ist.
Knackige Erkenntnisse
Die ruhigere Betriebstemperatur hat zwar auch damit zu tun, dass die drei das Thema eher auf einem abstrakten Level beackern; aber dabei springen durchaus knackige Erkenntnisse heraus - etwa, dass die Debatte über Aneignung hierzulande selbst nur angeeignet sei, so Balzer. Nämlich aus den USA. Baghernejad weist darauf hin, dass die Blickverengung auf die USA auch davon ablenken könne, welche rassistischen Probleme Deutschland selber habe. Zum Ende hin stellt Baghernejad die Frage, warum ein solches Buch wie Balzers „Ethik der Appropriation“ wohl nicht schon von einer jungen Romni geschrieben worden sei - die das vielleicht auch gerne getan hätte. Da ist die Panel-Zeit schon abgelaufen, Balzer winkt ab.


