Marten Laciny ist ein viel beschäftigter Mann. Als Marteria gehört er zu den erfolgreichsten Rap-Künstlern des Landes. Vor dem musikalischen Durchbruch standen auch noch Karrieren als Model, Schauspieler oder Profifußballer zur Auswahl. Heute angelt er für sein Leben gerne, tritt hin und wieder im Fernsehen auf, wirbt für Fisherman’s Friend, engagiert sich bei #wirsindmehr und Viva con Agua, geht auf Weltreise, macht Ayurveda-Kuren, verkauft Mode aus Ozeanplastik, prügelt sich auf Rügen und, und, und. Immer ist was zu tun. Zurzeit wärmt er sich für seine große Tournee im Spätherbst auf. Die „Generalprobe“ in Berlin musste gewitterbedingt um eine Woche verschoben werden.
Nun aber am Sonntagabend: Vollkontakt. Noch vor Sonnenuntergang springt Marteria „von Level zu Level“ und die ausverkaufte Waldbühne mit ihm. Das Durchschnittsalter im Publikum liegt wohl knapp über 30, mit vereinzelten starken Ausschlägen nach oben und unten. Viele hier begleiten den Rapper vermutlich seit über einer Dekade. Die gleichen biertrinkenden Festival-Atzen und einstigen Abiturient:innen auf Abschlussfahrt in Berlin sind heute erwachsene Menschen mit umgekehrten Baseballcaps und abwaschbaren Marsimoto-Tattoos. Marsimoto, das ist Marterias Alien-Alter-Ego, das im Laufe des Abends ein finales Album für 2023 ankündigt. Glück ist immer noch, wenn der Bass einsetzt. Marteria auf der Bühne findet heute alles „unfassbar“, die Menschen in Berlin „wunderschön“, und er erinnert mehrmals daran, dass dies hier eben ein echtes Marteria-Konzert sei. Ein Glücksversprechen.
2003 zog Marteria in die Hauptstadt und machte sich in der hiesigen Rap-Szene bald einen Namen. In Liedern wie „Verstrahlt“, „Endboss“ und „Marteria Girl“ traf sein serotoningetränkter Lebensstil immer wieder auf Rave- und Disco-Einflüsse, die vergessen ließen, dass der heute 39-Jährige am Ostseestrand, nicht im Berghain aufwuchs und weder für die Eisernen noch für die Hertha jubelt – sondern für den FC Hansa Rostock, dessen Trikots beim Konzert an der Waldbühne vereinzelt aus der Menge blitzen. Alsbald schuf Marteria mit „Kids (2 Finger an den Kopf)“ den verfrühten Abgesang auf die Ekstase. Auch heute schallt es durch Westberlin: „Alle hab’n ’nen Job, ich hab’ Langeweile/Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern.“
Dabei glimmten die ersten Joints schon vor Beginn des Vorprogramms. Das Bier wird aus Ein-Liter-Krügen geschlürft. Feierwütig sind die Berliner auch geblieben. Ebenso Marteria: Sein letztjähriges, nunmehr fünftes Soloalbum „5. Dimension“ bot noch mehr Rave, mehr Anpeitschen, mehr durchzechte Nächte. Die Welt geht vor die Hunde, Fans und Künstler antworten geschlossen: „Solange man kann, so viel, wie geht.“ Das Paradigma hat Kehrseiten. „Den Absprung nicht schaffen, da gibt’s kein’n Besseren als mich“, rappt Marteria in „Paradise Delay“ und spricht in Interviews über sein Nierenversagen als Folge des exzessiven Konsums, doch: „Niemand bringt Marten um“. Laciny erkämpfte sich die Kontrolle zurück, ist heute auch auf der Bühne „viel mehr Boss“, wie er sagt.

Tatsächlich ist es die gewaltige Ausstrahlung des Rappers, die am Sonntagabend in der Waldbühne besonders beeindruckt. Die Stimme bleibt konstant wuchtig, die Fans tanzen nach seinem Willen. Bereits zum Ende des ersten Songs, „Marilyn“, winkt Marteria das Taktklatschen zu sich heran. Möchte er Hände sehen, fliegen die Patscherchen gen Himmel; fordert er die anwesenden Frauen auf, die Schultern des nächstgelegenen Mannes zu erklimmen, dann wird die anspruchsvolle Akrobatik auch in den höchstgelegenen Rängen ausgeführt.
Ohne Anweisung von oben hingegen stehen selbst die ersten Reihen stellenweise verloren da, zu den treibenden Rhythmen von Techno-Pionier DJ Koze bewegen sich teils nur einstudierte HipHop-Hände. Die hüftsteifen Momente sind glücklicherweise schnell verdrängt, wenn Kumpel und Kollege Casper zur Wall of Death lädt und Marteria in Allianz mit Altrocker Campino die Gäste in „Scheiss-Ossis“ und „Scheiss-Wessis“ einteilt. Jeder Song steigert sich zum kleinen Finale, Pyro zündet, Bengalos leuchten, explosive Euphorie.


